Greta und das Wunder von Gent. Katja Pelzer

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Название Greta und das Wunder von Gent
Автор произведения Katja Pelzer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748564683



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dem Daniels schwerer Sarg zu schweben schien. Sie war umgeben von Daniels Freunden und Familie und deren Trauer. Dennoch fühlte sie sich vollkommen allein.

      Als sein bester Freund aus Kindertagen in der kahlen Friedhofskapelle ans Mikrofon trat und eine kurze Rede hielt, die er mit der Frage beendete: „Mit wem soll ich jetzt das Unmögliche träumen?“, löste sich Gretas Existenz in Tränen auf, obwohl sie gedacht hatte, keine mehr übrig zu haben.

      In diesem Moment, an dieser Stelle kündigte Greta ihrem Leben die Verbundenheit auf, die sie an Daniels Seite empfunden hatte. Sie legte ihre Träume zu ihm ins Grab.

      Alles war Greta mit Daniel möglich erschienen. Sie hatte geglaubt, am Anfang einer Beziehung zu stehen, die der Symbiose ihrer Eltern eines Tages nahe kommen würde. Durch Daniel war Greta nicht länger die Beobachterin gewesen. Doch erst jetzt wusste sie, was es hieß, wenn einem der wichtigste Mensch genommen wurde. Dieser einer Amputation gleichkommende Verlust. Die Stille danach. Die Leere. Schon morgens war sie so erschöpft, als hätte sie in der Nacht einen Acker umgepflügt. Trotz ihrer Erschöpfung stand sie morgens auf, sie duschte und zog sich an. Sie erzählte sich, dass das Leben weitergehen würde. Aber sie glaubte sich nicht. Sie ging einkaufen und kochte sich etwas zu essen. Sie redete sich gut zu, aß ein Drittel und war dann satt. Sie brach in Tränen aus, weil sie keinen Appetit mehr hatte. Auf nichts. Am allerwenigsten auf das Leben. Plötzlich verstand sie, was ihre Mutter durchgemacht haben musste. Sie verlor ein Kilo nach dem anderen. Schon vorher dünn, magerte sie nun zusehends ab.

      Miriam schaute Greta zwei Wochen dabei zu. Dann machte sie ihr einen Termin bei ihrer Hausärztin. Diese schrieb Greta für einen Monat krank und überwies sie an eine Psychotherapeutin. Dort ging sie in den ersten beiden Wochen alle zwei Tage hin. Später dann noch einmal in der Woche. Dabei blieb es für das nächste Dreivierteljahr.

      Das Erste, was die Therapeutin Greta fragte, war: „Sagt Ihnen das Wort Magersucht etwas?“ Natürlich sagte Greta das Wort etwas, doch sie wies es müde, und weit von sich. Sie hatte einfach keinen Hunger. Die Therapeutin sah sie daraufhin freundlich, aber fest an und sagte: „Sie sind nur für sich selbst verantwortlich.“

      Später gab die Psychotherapeutin Greta Hausaufgaben auf. Eine Aufgabe lautete: „Überlegen Sie sich, was Ihnen gut tut, nur Ihnen, ganz unabhängig von Ihrer Beziehung.“

      „Die Sonne, der Himmel, die Sterne, der Rhein“, schrieb Greta als Antwort in das dafür vorgesehene Heft.

      Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass es hilfreich war, in schweren Zeiten an einem Fluss entlangzugehen – mit dem Strom. Symbolisch trug dieser alle Lasten mit sich fort.

      Greta begann damit, an einem Tag, an dem die Sonne sie weckte. Und irgendwann wurde Gehen für sie zur Notwendigkeit. Sie ging und ging. Kilometerweit. An freien Tagen ließ sie sich vom Rhein an die Hand nehmen, folgte seinem Lauf, seinen Schlaufen, seinen Geraden. Sah graue Steinbrocken wie Nilpferde ab- und wieder auftauchen, je nach Hoch- oder Niedrigwasser. Den Groll über ihr Schicksal, ihre Angst vor dem, was kam, und die Schatten, die das Universum auf ihr Gemüt warf, lud sie auf den Rheinschnellen ab, indem sie den einen oder anderen Stein hineinwarf.

      Als Kind hatte Greta sich nichts Langweiligeres vorstellen können, als um des Gehens willen herumzulaufen. Der Sonntagsspaziergang dehnte die typische Leere dieses Tages zusätzlich in die Länge.

      Spaziergänge mit der Familie waren nur erträglich gewesen, wenn die Großtante dabei gewesen war. Sie hatte Greta an die Hand genommen. Zusammen waren sie gehüpft, bis eine von ihnen außer Atem kam. Die Großtante hatte es ihr vorgemacht: „Und eins, und zwei, und drei und vier. Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm. Und vorwärts rückwärts seitwärts rein.“ Und wieder von vorne. Oder sie spielten „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Manchmal versteckten sie sich auch voreinander. So wurden die Spaziergänge niemals langweilig.

      Manchmal setzte Greta sich während ihrer Spaziergänge nach Daniels Tod auf eine Bank und schaute aus ihrer Trauerblase auf die Menschen in der Welt. Sie betrachtete die breiten Baumstämme der Parks und wünschte sich deren Stabilität und Stärke. Sie lauschte dem Gesang der Vögel. Wie schafften sie es nur, so sorglos zu klingen? Greta beobachtete spielende Kinder. Waren sich die Mütter ihres Glücks bewusst? Wussten sie, wie reich sie waren? In Gretas Trauerblase herrschte Leere.

      Sie wollte nicht schon beim Aufwachen mit Daniels Abwesenheit konfrontiert werden. Hin und wieder übernachtete Greta daher auf Miriams Ausziehcouch.

      Greta hatte dann wieder gearbeitet, weiterhin kaum gegessen und viel geschlafen. Gespräche mit Menschen, die nichts mit ihrem Job zu tun hatten, vermied sie, so gut es ging. Sie hatte Angst vor Fragen. Schon „Wie geht es dir?“ hätte einen Heulkrampf ausgelöst. Miriam und Mia waren die einzigen Ausnahmen. Sie konnten mit Gretas Tränen umgehen.

      Es hatte fast zwei Jahre gedauert, bis Gretas Trauerblase geplatzt war. Bis sie das Leben wieder riechen und schmecken konnte und sich die Leere um sie in einen Raum voller neuer Möglichkeiten verwandelte. Dabei halfen die menschenfreundliche Therapeutin, Miriam, Tante Mia mit ihrer ungetrübt optimistischen Art, die sie immer wieder daran erinnerte, dass sie Atmen musste: „Atme tief durch, Greta, tief durchatmen!“ Und Leo, eigentlich Leopold – ein Künstler, den Greta bei einem Interview kennengelernt hatte. Er war nicht mehr ganz jung, aber attraktiv. Noch bevor sie Gefallen an ihm gefunden hatte, verliebte sie sich in seine Arbeiten. Die Farben waren stark, er verwendete sie sparsam mit maximalem Ausdruck. Sie erzählten von Kraft und Sensibilität. Im Laufe des zweistündigen Gesprächs begann es zwischen ihnen heftig zu knistern. Und nach einem Abstecher in die Melody-Bar, Gretas Lieblingsbar aus Studienzeiten, lockte Leo sie zurück in sein Atelier. Er hatte mit ihr zu Marvin Gaye und Tammi Terrells If this world were mine getanzt. Greta hatte sich gegen seinen Körper gelehnt wie gegen einen dieser Baumstämme im Park. Ihr war ganz leicht zumute gewesen. Kraft kroch zurück in ihre Knochen. Ihr Herz begann zu schlagen. Leo küsste sie. Küsste sie zurück ins Leben.

      Mit der Zeit entpuppte Leo sich jedoch als eifersüchtig auf sämtliche Männer dieser Erde. Tote wie lebendige. Das mit einer Vehemenz, die Greta die frisch gewonnene Energie kostete und sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als sich von Leo zu verabschieden. Danach hatte sie sich geschworen, kein Drama mehr in ihr Leben einzuladen, zumindest nicht in Form eines Mannes. Sie wollte allein zurück auf die Füße finden und darauf stehen bleiben, komme was oder wer da wolle.

      Kapitel 3

      An den Sonntagen war es weiterhin am schwierigsten gewesen. Die meisten Menschen traten in Familieneinheiten auf oder erst gar nicht in Erscheinung. Die Betriebsamkeit der anderen Tage wich einer leblosen Leere. Greta hatte

      begonnen, an diesem Tag regelmäßig ihre Großtante zu besuchen.

      Daniels Verlust hatte sie einsilbig gemacht. Gemessen an der Trauer über sein Fehlen wirkte jedes Gespräch sinnentleert. Verglichen mit der Nähe, die sie mit ihm erlebt hatte, war jede Begegnung banal. Dennoch hatte Greta wieder häufiger das Bedürfnis verspürt, unter Menschen zu sein, die nicht ihre Kollegen waren. Manchmal war sie auch in ihrer Nachbarschaft allein einen Kaffee trinken gegangen. Dort saugte sie den beruhigenden Singsang fremder Stimmen auf, die um sie herumsummten, ohne etwas von ihr zu wollen. Atmende Körper, die schützend zwischen ihr und der Einsamkeit standen.

      Am Nachbartisch saß ein junges Paar mit einer Bulldogge. Greta mochte Hunde, allerdings waren Bulldoggen nicht ihr Typ. Sie stand eher auf langbeinige, schlanke Tiere wie den ungarischen Vorstehhund. Greta hatte mehr als einmal darüber nachgedacht, sich einen Hund zuzulegen, war aus praktikablen Gründen aber davon abgekommen. Mit Daniel hätte sie sich früher oder später einen gekauft. Allein schon wegen der Kinder. Die Vorstellung, dass Kinder mit Tieren aufwuchsen, gefiel ihr.

      Plötzlich spürte Greta etwas Weiches, Warmes an ihrem nackten rechten Bein. Die Bulldogge vom Nachbartisch lehnte vertrauensvoll an ihrer Wade. Greta streichelte über den runden Rücken des Tiers. Seine Wärme schien über ihr Bein hoch in den Körper zu kriechen, ihren eingesperrten Geist in seinem Betonkerker zu besuchen und zu umhüllen. Gleichzeitig wurde sie sich ihrer Bedürftigkeit mit einer Brutalität bewusst, dass es ihr