Название | Greta und das Wunder von Gent |
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Автор произведения | Katja Pelzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748564683 |
Von einer Reise nach Chile waren sie nicht zurückgekommen. Sie waren viel mit Bussen unterwegs gewesen, und einer dieser Busse war verunglückt und in Flammen aufgegangen. Bis auf den Fahrer, der sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, waren alle Passagiere umgekommen. Gretas Großeltern waren beide nur fünfundsechzig Jahre alt geworden. Greta erinnerte sich an die Trauer des Vaters. Auch ihre Eltern waren nicht alt geworden. Der Vater war bereits mit sechsundfünfzig Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Die Mutter zwei Jahre darauf an gebrochenem Herzen. Das war jetzt zehn Jahre her.
Nicht einmal Greta hatte sie trösten können. Nick hatte es gar nicht erst versucht, sondern wie meistens mit Abwesenheit geglänzt seit er angefangen hatte zu arbeiten.
Auch Bilder von der Hochzeit ihrer Eltern fand Greta. Ihre Mutter hatte einen knöchellangen champagnerfarbenen Rock getragen, mit einem zarten Nichts von einer Seidenbluse. Im fast schwarzen Haar Schmuck aus blaugrünen Federn und einen Hauch von einem nachtblauen Schleier, der ihr knapp über die Augen fiel und ihr die Aura eines Filmstars verlieh. Wie schön sie gewesen war! Gretas Vater trug einen dunkelblauen Samtanzug, wie Kommunionkinder sie früher anhatten. Die Hose mit breitem Schlag. Er hatte seinen blonden Kopf schräg auf die Schulter seiner Braut gelegt und ein Bein weit in die Luft gestreckt. Dabei grinste er frech in die Kamera. Die Braut, die ihre Mutter einst gewesen war, lachte den Betrachter an. Freunde und Verwandte mischten sich auf anderen Bildern mit dem strahlenden Paar. Sie hatten Luftballons mit Wunschkarten in den Himmel geschickt.
Wie glücklich sie aussahen, und wie kurz die Zeit gewesen war, die Greta mit ihnen verbringen durfte. Viel zu kurz.
Greta hielt inne. Sie beschlich das Gefühl, als wäre mit dem Tod der Großtante eine Epoche zu Ende gegangen. Wie eine Nebelwand stieg Müdigkeit in ihr hoch. Sie seufzte.
Nur noch ein Schrank stand ihr bevor.
Seine Türen ließen sich kaum öffnen, so verzogen war ihr Holz. Ihre Großtante hatte ihn als Mitgift von ihren Eltern bekommen. Es war ein schönes dunkelglänzendes Kirschholzmöbel mit einer asiatisch anmutenden Metallschließe im oberen Drittel.
Kleider fand Greta darin keine. Vielmehr stapelten sich in den meisten Fächern sorgfältig gefaltete Bettlaken und -bezüge. Greta strich voller Sehnsucht darüber. Sie waren gestärkt und durch die Heißmangel gedreht worden. Steif wie Bretter. Wäsche wie aus einer anderen Zeit. Sie vermittelte Geborgenheit und erinnerte Greta an das gleiche besondere Flair, das von den aufwändig gedeckten Esstischen ihrer Kindheit ausgegangen war. Sie selbst besaß nicht einmal einen Wäschetrockner. Bei ihr blieb das meiste ungebügelt und in jedem Fall ungestärkt.
In den unteren Fächern des Schranks standen mehrere alte Plätzchendosen aus bemaltem Metall. Sie sahen aus wie jene, in denen ihre Großtante den Süßigkeitenvorrat aufbewahrt hatte, den sie ihren Gästen auf feinem Porzellan angeboten hatte. Greta sah die kleinen chinesischen Schalen vor sich, mit den orangefarbenen Mustern und den köstlichen Trüffeln darin. Meist waren es Belgische gewesen. Die hatte Tante Mia besonders geschätzt.
Süßigkeiten lagerten heute nicht mehr in den Dosen, stattdessen weitere Fotos. Viele von Menschen, die Greta nicht kannte. Die meisten Aufnahmen waren in Schwarz-Weiß. Als Kind hatte Greta gedacht, dass die Zeit und somit alles, was auf den Fotos abgebildet war, tatsächlich schwarz-weiß gewesen war. Die Menschen ebenso wie die Bäume, Häuser, Straßen, Geschäfte. Die ganze Welt. Sie lächelte bei dem Gedanken.
In einer Dose fand Greta ein paar Schreibhefte und Briefe. Feine hellblaue Umschläge, auf die in einer eleganten, zarten, schwarzen Tintenschrift eine Adresse in Gent geschrieben stand. Sie waren an Mia Lessing gerichtet, so der Mädchennamen ihrer Großtante.
Kurz fragte sich Greta, ob sie den Inhalt lesen dürfte. Doch wie hätte sie sonst entscheiden können, ob sie die Briefe aufbewahren oder entsorgen sollte? Es fiel ihr ohnehin schwer, die Spuren dieses langen, erfüllten Lebens zu löschen. Mit welchem Recht gab sie die Kleider ihrer Tante weg? Wie anmaßend, dass sie, die Großnichte, darüber befand, was es zu bewahren galt und was nicht. Wie klein jedes Leben wirkte, reduziert auf irdische oder besser gesagt materielle Errungenschaften. All die Liebe, die ihre Großtante gegeben hatte und deren Widerschein Greta noch immer wärmte, die Funken ihres Charmes, ihr Witz und ihre Herzlichkeit hatten sich in Gretas Gedächtnis eingebrannt. Die Erinnerung daran war nicht mit ins Grab gegangen und war ohnehin nicht in irgendwelchen Kisten zu verstauen. Greta seufzte, als könnte sie sich damit auch von der Last befreien, die sich vor ein paar Tagen auf ihre Brust gelegt hatte.
So lange noch jemand lebte, der Mia gekannt hatte, so lange würde ihr Wesen wirken. Dieser Gedanke gab Greta Kraft.
Hatten sie sich nicht ohnehin immer alles erzählt? Wenn sie vor lauter Kummer nicht mehr weiterwusste, hatte ihre Großtante sie oft in den Arm genommen und so lange gehalten, bis Greta sich wieder beruhigt hatte. Mit diesen Gedanken zog Greta den zuoberst liegenden Brief beherzt aus seinem Kuvert.
Gent, 23. Mai 1933
Herzallerliebste Mia,
wie schön Du warst, im halbschattigen Licht der Kathedrale. Ich hätte stundenlang so mit Dir sitzen mögen. Selbst wenn Du kein Wort mit mir gesprochen hättest. Gebadet hätte ich in Deinem Widerschein. Kaum hattest Du mir Adieu gesagt, begann in meinem Innern eine solche Sehnsucht sich zu entfalten, dass ich am liebsten zu Deiner Wohnung gelaufen wäre, mich auf die Schwelle der Türe gesetzt hätte, um nur ja nicht den Augenblick zu verpassen, an dem Du wieder in die Welt hinaustrittst. Mia, ohne Deinen Anblick fühle ich mich verloren. Was soll ich tun, wenn ich nicht in Deine Augen schauen kann, bis zu Deiner Seele? Wie soll ich die Tage füllen bis zum Abend, wenn ich Dich wiedersehen darf? Gib mir rasch Nachricht, ob ich Dich am kommenden Wochenende wieder zum Essen und zum Tanz ausführen darf. Oder wenn es Dir ein weiteres Mal behagt, auch zum Genter Altar, der es Dir genauso angetan hat wie mir.
Ich erwarte also Deine Antwort, in treuer Demut,
Benommen ließ Greta das Blatt sinken. Sie war noch keinem Mann begegnet, der seine Gefühle so poetisch und doch ehrlich aussprechen konnte wie der Absender dieser Zeilen. Auch nicht in einem Brief. Briefe bekam Greta ohnehin nur noch selten in Zeiten von E-Mail und Kurznachrichten. Als Teenager hatte sie einige erhalten. Ihr erster Freund hatte ihr mit vierzehn Jahren in die Sommerferien hinterhergeschrieben. Er hatte Fotos beigelegt. Eines zeigte ihn mit schiefgelegtem Kopf am Briefkasten des Familienferienhauses, wo er vergeblich auf Antwort gewartet hatte. Sein trauriger Blick erinnerte Greta ein wenig an seinen Hund – einen Basset.
Zwei Sommerferien später hatte Greta gemeinsam mit ihrer besten Freundin Miriam in Bayern einen Segelkurs belegt. Ihr damaliger Freund hatte ihr Briefe geschrieben, in denen er eine Ecke umgeknickt und Miriams Namen darauf geschrieben hatte. Öffnete diese die Ecke, stand dort „Sei nicht so neugierig“ oder „Der Brief ist für Greta“. Natürlich teilte Greta ihre Briefe jedes Mal mit Miriam. Sie war ihr bis heute als beste Freundin erhalten geblieben.
Der Name unter dem Brief, den Greta jetzt in der Hand hielt, war derart hingeschnörkelt, dass sie ihn nur schwer entziffern konnte. Es schien Hugo zu heißen. Greta stutzte. Der Name ihres Großonkels war Carl gewesen. So viel Greta wusste, waren Mia und Carl 1933 bereits verlobt gewesen. Wer also war Hugo? Gretas Herz klopfte, als wäre sie bei einer Heimlichkeit ertappt worden. Sie beschloss, die Blechdose mit den Briefen und Heften mit nach Hause zu nehmen. Ebenso wie sämtliche Fotos. Um alles zu sortieren, würde sie eine Weile brauchen. Aber auf diese Weise konnte sie auch weiterhin Zeit mit ihrer Großtante verbringen.
Auf der Rückfahrt dachte Greta an den poetischen Brief und an Tante Mia. Irgendwann hatte die Großtante ihr mal erzählt, dass sie ein paar Semester Kunstgeschichte in Gent studiert hatte, dem aber kaum Bedeutung beigemessen. Es war so lange her. „Wie in einem anderen Leben“, hatte die Großtante gesagt und verträumt gelächelt. Im Nachhinein hätte man einiges hineinlesen