Klippenfall. Meike Messal

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Название Klippenfall
Автор произведения Meike Messal
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954752386



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starrte weiterhin wie gelähmt in den Raum, anscheinend ohne etwas wahrzunehmen. Sylkes Erleichterung löste sich auf, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das hier war nicht ihre Emilie. Dieses Mädchen hatte Angst und stand eindeutig unter Schock.

      »Schon gut. Schon gut, meine Süße!« Sie rückte an ihre Tochter heran, umfasste sie mit beiden Armen. Erst da fiel ihr auf, dass Emmi einen Rucksack trug. Vorsichtig löste sie die Schulterriemen. Emilie ließ das teilnahmslos geschehen, jegliche Energie schien aus ihr gewichen zu sein. Die Tasche war schwer, Sylke stellte sie auf den Boden und öffnete den Reißverschluss. Sie war voll mit Essen. Zuerst holte Sylke eingepackte Brote heraus, dann Äpfel und Bananen. Zum Schluss zwei Tafeln Schokolade, Alpenmilch und Haselnuss. Außerdem befand sich noch eine Flasche Eistee darin und zu guter Letzt beförderte sie Cola ans Tageslicht. Obwohl sie es nicht wollte, knurrte ihr Magen laut auf.

      »Hast du Hunger?«, fragte sie. Emilie schüttelte den Kopf. Bis auf »Mama« ganz zu Beginn hatte sie noch kein Wort gesprochen, stellte Sylke beunruhigt fest.

      Sie schob das Essen zur Seite und nahm ihre Tochter erneut in den Arm. »Es wird alles gut«, flüsterte sie, vergrub sich in Emilies Haaren und sog den vertrauten Geruch in sich auf. »Wir sind zusammen, jetzt kann uns nichts mehr passieren, ich verspreche es dir.« Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Sie wollte alles wissen: Wo Emilie gewesen war, was er mit ihr gemacht hatte, ob er irgendetwas zu ihr gesagt hatte, das darauf hinwies, warum sie beide hier waren. Doch Emilie würde jetzt nicht reden. Sie musste ihr Zeit lassen, Sicherheit geben. Eine Sicherheit, die sie selbst nicht verspürte. Sylke drückte sie fest an sich, hielt sie umschlungen. Sie merkte, wie Emilie sich langsam entspannte, sich in sie hineinkuschelte, als wollte sie in ihr verschwinden.

      Alles wird gut. Immer wieder wiederholte Sylke das Mantra in ihrem Kopf. Sie hielt ihre Tochter im Arm, das war das Einzige, das zählte. Jetzt musste sie nur noch herausbekommen, wo sie waren, und es schaffen, zu flüchten. Irgendwann würde dieser Mistkerl ja mal auftauchen. Sylke hielt die Augen weit geöffnet. Sie würde über Emilie wachen und bereit sein, sobald er den Raum betrat.

      10

      Nicht nur ihre Schönheit hatte er bemerkt. Seit einigen Wochen beobachtete er sie nun schon. Jede Pause. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass sie zwei Jahrgänge über ihm war. Er bewunderte nicht nur ihre langen Haare, die ihn an hellglitzerndes, goldenes Meer im Sonnenschein erinnerten, nicht nur ihre kleinen Brüste, auf die er, selbst wenn er es nicht wollte, immer wieder schauen musste. Aber da waren auch ihre langen, schmalen Beine, die aussahen, als sei sie ein Reh, jederzeit bereit, davonzulaufen und im Dickicht zu verschwinden. Ihre blauen Augen, die er noch nie lachend gesehen hatte. Sie schauten nachdenklich, manchmal traurig. Ihre Haltung. Sie stand ein wenig vornübergebeugt, als wollte sie sich an etwas anlehnen, Halt suchen.

      Und sie war allein. Genau wie er. In der Pause ging sie immer in eine bestimmte Ecke, sogar, wenn es regnete und die anderen die Regenpause im Schulgebäude genossen. Sie hingegen ging hinaus, egal ob ein Sturm peitschte oder die Sonne vom Himmel stach. Wie unbeteiligt stand sie am selben Fleck.

      Aber je länger er sie beobachtete, desto mehr merkte er, dass sie nicht so teilnahmslos war, wie sie wirkte. Sie sah alles. Inzwischen glaubte er, dass sie auch ihn bemerkt hatte. Seitdem hoffte er inständig auf ein Zeichen. Schließlich ging es ihnen doch beiden gleich – die anderen mieden sie, machten einen Bogen um sie, als wären sie Aussätzige. Sie allerdings sah nie in seine Richtung.

      Er versuchte herauszubekommen, warum sie so allein war. Bei ihm, ja, das konnte er verstehen, klein und unscheinbar wie er war. Alle verehrten seinen großen Bruder, jedenfalls die Jungen in seinem Alter. Die Erwachsenen allerdings konnten ihn nicht leiden, doch wen interessierten schon die Alten.

      Aber sie? Sie war schön, und klug war sie bestimmt auch. Warum nur hatte sie keine Freundinnen? Je mehr Tage ins Land gingen, desto mehr reifte in ihm eine Einsicht: Es musste so sein, weil sie es wollte. Sie hatte sich entschieden, allein zu sein. Sein Respekt vor ihr wuchs. Im Gegensatz zu ihm, der gesehen werden wollte, der sich nichts sehnlicher als einen Freund – noch besser, eine Freundin – an seiner Seite wünschte, hatte sie sich bewusst dagegen entschlossen.

      Seitdem sah er sie mit anderen Augen. Das war keine Trauer in ihrem Blick, sondern Desinteresse an der Welt. Bestimmt suchte sie niemanden zum Anlehnen, sondern war nach vorne gelehnt, weil sie bereit war, zu kämpfen. Ein Boxer im Ring unter Hochspannung.

      Er versuchte, so zu werden wie sie. Beherrscht und unnahbar. Wer sagte schon, dass man zum Glück mehr als sich selbst brauchte? Ihm gelang es nicht, noch nicht? Aber sie schien zufrieden zu sein, glaubte er.

      Bis zu jenem Tag kurz vor den Sommerferien. Der Tag, an dem er begriff, dass sie noch viel schlimmer dran war als er. Viel, viel schlimmer.

      11

      Irgendwann war Emilies Atem langsamer und gleichmäßiger geworden. Voller Erleichterung darüber, dass ihre Tochter eingeschlafen war und so der Hölle wenigstens für kurze Zeit entkommen konnte, murmelte Sylke ein Danke in den Raum, ohne zu wissen, an wen sie es eigentlich richtete. Behutsam bewegte sie ihr rechtes Bein, gefühlte tausend Ameisen krabbelten darin herum. Dann griff sie zur Cola-Flasche, Koffein war jetzt genau das Richtige. Und weil sich ihr Magen erneut meldete, öffnete sie ebenfalls eine Packung der Brote. Es waren sechs Stück, da würde genug für ihre Tochter bleiben.

      Sie hatte das erste Brot gerade aufgegessen, als das Licht erlosch. Sylke zuckte zusammen und streichelte dann schnell über Emilies Haar, weil die ihren Kopf unruhig hin und her warf. »Schhh«, wisperte sie. Angestrengt versuchte sie, sich an die Dunkelheit anzupassen, etwas zu erkennen. Aber wie auch schon zuvor sah sie die Hand vor Augen nicht. »Ob es Nacht ist?«, überlegte sie. Ohne Uhr und völlig übermüdet war es ihr nicht mehr möglich, nur ansatzweise zu sagen, wie spät es war. Er hatte sie und Emilie am Sonntagabend gefangen genommen. Als sie in dem Raum aufgewacht war, war es stockdunkel gewesen. Angenommen, er ahmte die natürliche Zeit nach, hatte sie die Nacht, dann den Montag hier verbracht und Emilie musste am frühen Montagabend zu ihr gekommen sein. Sylke beschloss, sobald das Licht anging, den Block zu nehmen und die Daten darauf zu notieren. Morgen wäre also Dienstag und sicherlich suchte man bereits nach ihnen. Bestimmt hatte Levke Alarm geschlagen. Bei dem Gedanken beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig.

      Eine drückende Müdigkeit legte sich auf ihren Körper. Jetzt, wo sie einigermaßen satt war und Emilies regelmäßigen Atem hörte, konnte auch die Cola die furchtbare Mattheit nicht vertreiben. Krampfhaft versuchte sie, ihre Lider nicht zu schließen, dem Schlaf zu trotzen, falls er kommen und sich eine Möglichkeit zur Flucht ergeben würde. Was aber, wenn er sich gar nicht blicken ließ? Erst in mehreren Tagen kam? Sie konnte nicht tagelang die Augen offen halten. Dann würde sie so erschöpft sein, wenn er erschien, dass sie nicht klar denken konnte, geschweige denn fliehen. Vorsichtig legte sie Emilies Kopf von ihren Beinen auf das Bett und schob das Kissen darunter. Emilie seufzte, wachte aber nicht auf. Hoffentlich träumt sie vom Meer, dachte Sylke, stand langsam auf und streckte ihren verkrampften Körper. Sie tastete sich bis zu dem Regal, nahm einen Stapel Bücher heraus und kroch mit ihnen unter dem Arm an der Wand entlang zur Tür. Sorgsam stapelte sie einen hohen Turm direkt an das Metall. Sollte er die Tür auch nur einen Spalt öffnen, würden die Bücher mit einem lauten Getöse umfallen und sie wecken. So konnte er sie wenigstens nicht im Schlaf überraschen.

      Sie tastete sich zum Bett zurück, erfühlte die Decke und zog sie sanft bis zu Emilies Schultern hoch. Plötzlich sah sie die rosa Feen darauf vor sich. Ihr wurde übel, sie würgte, ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie versuchte, die dunklen Gedanken zu verdrängen, die sich erneut in ihrem Kopf breitmachten. So vorsichtig wie möglich kletterte sie über ihre Tochter, legte sich hin und schmiegte sich eng an sie. Das Bett war schmal, ein Bett für eine Person. Egal. »Schlaf jetzt«, ermahnte sie sich selbst. Aber sobald sie lag, war sie mit einem Mal hellwach. Ein dunkler Raum. Ein Bett. Zwei Frauen. Und irgendwo ihr Entführer. Was wollte er von ihnen? Warum gerade sie? Und wieso kam er ihr bloß so bekannt vor?

      Erneut ging Sylke alle Männer durch, die eine Rolle in ihrem Leben spielten. Gespielt hatten. Viele waren das nicht gewesen und jetzt war sie schon länger allein. Irgendwie schaffte sie es nie, eine intensive Bindung aufzubauen. Sie war schnell