Klippenfall. Meike Messal

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Название Klippenfall
Автор произведения Meike Messal
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954752386



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      »Okay, also heute Abend. Sieben?«

      »Besser um acht.« Sylke seufzte. »Vielleicht koche ich doch. Emmi kann ja nicht immer nur Fastfood bekommen.«

      »Ansehen kann man es euch nicht.« Ein wenig neidisch blickte Levke auf ihre Freundin, die groß und schlank vor ihr stand. Obwohl Sylke im letzten Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte und sie damit drei Jahre älter war, fand Levke, dass man den Altersunterschied zwischen ihnen nicht sah. Im Gegenteil, Sylke wirkte jünger als sie. Dazu war sie immer perfekt gekleidet, die Farbtöne aufeinander abgestimmt, dezentes Make-up, das zu ihrer hellen Haut und den blonden, akkurat geschnittenen schulterlangen Haaren passte.

      »Dir doch auch nicht.« Lächelnd musterte Sylke ihre Freundin. »Du hast Rundungen an den richtigen Stellen und die Männer stehen auf dich. Andauernd kommst du mit einem Neuen um die Ecke.«

      Mit diesen Worten hatte sie Levke sanft, aber bestimmt zur Tür geschoben. »Bis heute Abend, Levi«, hatte sie ihr hinterhergerufen und Levke hatte von der anderen Straßenseite gewunken.

      Und jetzt war Sylke nicht zu Hause. Hatte sie die Zeit vergessen und einfach weitergenäht? Das war bei ihr durchaus möglich. Auch, dass Emilie immer noch am Strand hockte und sich irgendeiner Beschäftigung so hingab, dass sie auf nichts anderes mehr achtete.

      Levke ging um das Haus herum in den Garten. Dort spähte sie durch die große Terrassentür ins Innere. Das Wohnzimmer war mit einer offenen Küche verbunden. Nichts rührte sich. Levke holte ihr Handy aus der Tasche, wählte Sylkes Nummer, sie stand gleich ganz oben. Niemand ging ran. Auch ein Anruf im Laden blieb unbeantwortet. Komisch.

      Levke dachte an den gestrigen Abend. Daran, dass Sylke weder Kai angerufen noch auf die SMS reagiert hatte. Wenn sie nähte, vergaß sie manchmal alles um sich herum. Aber Emmi? Sie musste doch langsam Hunger bekommen.

      Seufzend beschloss Levke, zu warten. Sie machte es sich auf der Terrasse im Gartenstuhl gemütlich. Von Katharinenhof nach Burg zu fahren, um im Laden nachzusehen, das würde zu lange dauern. Bestimmt kamen die beiden jeden Augenblick zurück.

      Levke fuhr sich durch das Gesicht. Inzwischen war sie gar nicht mehr so wild darauf, Sylke von dem Typen zu erzählen. Gestern Abend auf Kais Feier hatte sie ihn sympathisch gefunden. Ein wenig zu klein und zu dünn für ihren Geschmack, aber irgendwie faszinierend. Er flirtete mit ihr völlig anders, als sie es gewohnt war. Subtil, doch umso beharrlicher, so als wäre sie das einzige weibliche Wesen auf der Feier. Sie hatte eindeutig ein paar Gläser zu viel intus und wäre bereit gewesen, mit ihm zu knutschen. Als ihre Lippen jedoch vor seinen schwebten, hatte er mit einem Mal einen Rückzieher gemacht, Ausflüchte gesucht und sich stattdessen für heute mit ihr verabredet. Dann war er spurlos verschwunden, sie hatte ihn den ganzen Abend nicht mehr gesehen.

      Und die Verabredung heute? Bang! Er war nicht aufgetaucht. Levke hatte auf ihn am Rathaus gewartet und je mehr Zeit verstrichen war, desto dümmer war sie sich vorgekommen. Sie hatte sich mehrfach gefragt, warum sie überhaupt dort stand. Betrunken an einem Abend war das eine, aber nüchtern bei hellem Tageslicht ... verrückt. Sie war doch alt genug, um zu wissen, dass man sich auf so was besser nicht einließ. Bestimmt hatte zu Hause seine Frau auf ihn gewartet und das schlechte Gewissen hatte ihn geplagt. Hatte er eigentlich einen Ring getragen? Levke konzentrierte sich, aber sie konnte sich kaum noch sein Gesicht in Erinnerung rufen, geschweige denn seine Hände. Sie war gestern so beschwipst gewesen, sie hatte ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Über den Typen würde sie jetzt nicht mehr nachdenken. Seufzend schüttelte Levke den Kopf.

      Oh Mann. Sie brauchte jetzt definitiv eine Tiefkühlpizza – etwas anderes würde es wohl doch nicht geben – und vor allem ein kühles Bier. Als ihr Sylkes Lieblingsspruch einfiel, musste sie plötzlich grinsen. Wie oft hatte sie den schon von ihrer Freundin gehört, wenn sie mal wieder geknickt nach einem misslungenen Date mit ihr darüber quatschte: Du weißt doch, der größte Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt in dem Satz: Was für ein Arsch!

      3

      Als Sylke in vollkommener Dunkelheit zu sich kam, brauchte ihr Gehirn nur Sekunden, um sich zu erinnern: Er hatte vor ihnen gestanden. Sie hatte ihn nur aus den Augenwinkeln gesehen, keine Zeit gehabt, einen klaren Gedanken zu fassen, schon war ein schrecklicher Schmerz durch ihren Körper geschossen. Und dann diese Dunkelheit. Ein ähnliches undurchdringliches Schwarz wie dieses, das sie jetzt umgab. Sie hatte ihre Tochter nicht schützen können.

      »Emmi?« Sylkes Stimme klang selbst in ihren Ohren zu dünn. Das lag nicht an ihren rasenden Kopfschmerzen oder an ihren Gliedern, die sich wie Pudding anfühlten. Nein. Die Angst nahm ihr die Kraft. Wo war Emmi? Obwohl die Dunkelheit sie umgab und sie selbst mit weit aufgerissenen Augen nichts erkennen konnte, spürte sie es: Emmi war nicht da.

      »Emmi?« Lauter sagte sie es, flehend. Wenn sie sich doch täuschte und ihre Tochter neben ihr lag? Vorsichtig tastete Sylke nach links und rechts. Da war niemand. Sie lag weich. Nicht auf einem festen Boden aus Stein, Lehm oder Holz. Ihre linke Hand klopfte weiter den Untergrund ab, auf dem sie lag, und schlug dann ins Leere. Erschrocken hielt Sylke inne, ließ ihren Arm baumeln, horchte. Nichts. Dunkelheit und Stille.

      Langsam stützte Sylke sich auf ihren rechten Arm. Sofort explodierten Sterne in ihrem Kopf. Mit fest aufeinandergepressten Lippen schob sie sich ein Stück nach oben, beugte sich nach links, drehte sich. Unter ihr quietschte es, ein altes Lattenrost auf Metall. Das Geräusch kannte sie, sie musste auf einem Bett liegen. Sie rollte sich zurück auf den Rücken, streckte beide Arme aus. Rechts stieß sie an eine Wand. Rau. Keine Tapete.

      Sylke versuchte, ihr Gehirn in Gang zu bringen. War es gut oder schlecht, dass sie hier lag? Immerhin lebte sie. Und sie lag in einem Raum, nicht irgendwo am Strand oder in dem kleinen Waldstück. Er hatte sie hierhergeschleppt und auf ein Bett gelegt. Und sie war nicht gefesselt. Oder? Mit einer plötzlichen erneut aufkommenden Panik zog sie ihre Beine zu sich, stieß erleichtert die Luft zwischen den Zähnen aus. Sie konnte sich bewegen. Wenn es doch bloß nicht so verdammt dunkel wäre!

      Sylke atmete tief ein und schwang dann die Beine über den Bettrand. Sofort wurde ihr schwindelig, stöhnend presste sie die Finger gegen die Stirn. Aber sie saß. Sie griff nach ihrer Hosentasche, aber natürlich hatte er ihr das Handy abgenommen. Ihre Füße berührten den Boden und langsam stand Sylke auf, ignorierte das Pochen hinter ihren Schläfen, befahl den Beinen vergeblich, mit dem Zittern aufzuhören. Vorsichtig streckte sie sich, hob die Arme in Zeitlupe nach oben, zuckte zurück. Ihre Fingerspitzen hatten die Decke gestreift. Niedrig war sie, zu niedrig für ein normales Zimmer. Sylke streckte die Arme nach vorne, tastete sich zur nächsten Wand, fuhr an ihr entlang.

      Es dauerte lange, bis sie den ganzen Raum erkundet hatte. Mehrfach war sie gestolpert, gegen Dinge gestoßen. Sie hatte alles abgetastet, jeden Winkel erforscht. Zurück bis zu dem Bett. Sylke ließ sich darauf sinken, krallte sich mit beiden Händen an der Matratze fest.

      Es war ein vollmöbliertes Zimmer mit einem Tisch und einem Stuhl. Sogar einen Sessel und ein Regal hatte sie erfühlt. Und in der Ecke schräg gegenüber zwei niedrig gemauerte Wände, die ihr bis zur Brust gereicht hatten. Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, dass es ein kleinerer, abgeteilter Bereich sein musste, in dem sie dann eine Toilette und ein Waschbecken entdeckt hatte.

      Und natürlich gab es eine Tür. Bei ihr hatte sie besonders viel Zeit verbracht. War immer wieder mit den Fingern daran entlanggefahren. Über das kalte, glatte Metall, über die Scharniere auf der einen Seite. Doch sie hatte keine Türklinke ertastet, nur eine kleine Schlossrosette. Es hatte gedauert, bis sie die volle Bedeutung dieser Tatsache erkannte und den Gedanken zulassen konnte: Ohne Schlüssel kam sie hier nicht heraus. Sie war eingesperrt. In einem fensterlosen Zimmer mit niedriger Decke.

      Aber das Wichtigste hatte sie nicht gefunden. Nirgendwo.

      »Emmi!« Das Wort kam schluchzend aus ihrem Mund. Eine Welle der Verzweiflung erfasste sie so stark, dass sie schwankte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wer sie gefangen hielt. Aber das Schlimmste war die Ungewissheit, was er mit ihrer Tochter gemacht hatte.

      4

      Sie war so schön. Die langen Beine