Название | Herr Groll und die Wölfe von Salzburg |
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Автор произведения | Erwin Riess |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701362905 |
Der Dozent schüttelte unwirsch den Kopf. „Sie sprechen von der Sowjetunion. Implodiert. Vollständiger Bankrott. Ein Trauerspiel.“
„Ein historischer Irrtum. Ich sagte doch, daß an der Korrektur bereits gearbeitet wird.“
„Von wem? Von Putin? Das glauben Sie doch selbst nicht! Seine Leute gehen hier bei Obauers ein und aus. Widerliche Oligarchen, die das Volksvermögen verprassen.“
„Ich rede nicht von den Schmeißfliegen der Ökonomie, ich spreche von den vereinigten Fortschrittskräften des wiedererwachten Volkes.“
„Sie sind wahrlich ein rostiger Materialist!“, rief der Dozent erbost. „Weder gibt es in Rußland Fortschrittskräfte, auch keine vereinigten, noch gibt es ein wiedererwachtes Volk. Was ein ‚wiedererwachtes‘ Volk anzustellen in der Lage ist, können Sie gerade in Salzburg bestens studieren. Als es nach dem Krieg darum ging, die Verwaltung wieder anzukurbeln, mußte man Nazigegner mit der Lupe suchen. Einer der wenigen ist vor nicht langer Zeit gestorben, Marko Feingold, aber der war wie der Großglockner beim Genua-Tief, eine einsame Spitze in der Sonne, darunter Nebel, brauner Nebel. Jetzt, wo es opportun ist, Nazigegner zu sein, und wo man nicht mehr Leben, Karriere und Gemeindewohnung riskiert, fragt man sich ja, wo die vielen Nazis hergekommen sind. Es hat den Anschein, als seien sie einst dem Untersberg entstiegen und wären wieder in dessen Höhlen zurückgekehrt. Kommen Sie mir nicht mit einem erwachten Volk!“
Der Dozent zitterte vor Empörung. Wenn er in Rage gerät, gefällt er mir am besten. Insgeheim mußte ich aber zugeben, daß er nicht ganz falsch lag. Unter meinen Freunden, den ehemaligen Werftarbeitern, zählten beileibe nicht alle zu den Fortschrittskräften. Anders waren ihre Wahlergebnisse nicht erklärbar. Viele wünschen sich die Sowjetunion nur zurück, weil sie der Leberzirrhose entkommen und Schiffe bauen wollen.
Wir drehten eine Runde durch den Ort. Dann nahmen wir die Straße neben den Obauers auf den Berg. Vorbei am Friedhof und der einstigen Diskothek „Hochkönig“, einem Holzverschlag, in dem holländische Ferienkinder vom benachbarten Jugendheim sich vollaufen ließen, führte die viel zu steile Straße auf ein Plateau, auf dem in den siebziger Jahren ein paar Gemeindewohnhäuser errichtet worden waren. Meine Großmutter, die nach dem frühen Tod ihres Mannes in einer Textilfabrik in Bischofshofen schuftete, hatte dort eine sechsunddreißig Quadratmeter große Garçonniere bekommen, als sie vom Austragerhäuschen der Obauer-Großeltern oberhalb des Friedhofes hatte ausziehen müssen, weil die alten Herrschaften gestorben waren und die gemütliche hölzerne Bruchbude abgerissen wurde. Bei den Obauers hatte Großmutter über einen Balkon verfügt, der den Blick auf die drohende Wand des Tennengebirges freigab. In der neuen Wohnung stand ebenfalls das Gebirge vor der Küche, aber es gab nur einen französischen Balkon.
Unterhalb der Gemeindewohnungen führte eine sehr steile Straße in den „Hölle“ genannten Taleinschnitt, in dem sich ein paar verlorene Häuschen aneinanderdrückten. Madames alter Direktions-Jaguar stand vor dem größten der Häuser. Ich war beruhigt. Vorsichtig rollten wir in den Markt zurück. Wie die Großmutter die Straße im Winter bei Schnee und Eis bewältigen konnte, war mir immer ein Rätsel geblieben. Mit dem Rollstuhl konnte ich sie nie besuchen, immer brauchte ich für die paar hundert Meter vom Markt ein Auto.
Ich setzte den Dozenten beim Aufgang zur Festung ab. Während er sich bei der Burg herumtrieb, konnte ich mit Madame im Stiegen-Gasthaus unser konspiratives Treffen durchführen. Hinter dem neu errichteten Pensionistenheim gab es einen Behindertenparkplatz. Von dort kam man überdacht ins Heim und durch einen breiten Gang ins Gasthaus. So lobe ich mir die Geriatrie.
Ich hatte noch ausreichend Zeit, bis Madame, die auf Pünktlichkeit Wert legte, erscheinen würde. Ich holte den Zettel, den ich der Puppe entnommen hatte, aus dem Rollstuhlnetz, strich ihn glatt und begann zu lesen.
Das Salzburg Manifesto
Der Kapitalismus lebt. Die Industrie lebt. Die industrielle Landwirtschaft lebt. Die industrielle Kunst lebt. Der industrielle Sport lebt. Der Therapiemarkt lebt.
Niemand soll auf falsche Gedanken kommen. Dieses Ziel ist erreicht, wenn niemand mehr denkt. Nur wer nicht denkt, kann auf keine falschen Gedanken kommen. Gedanken über eine andere Welt. Eine andere Produktionsweise. Eine andere Herrschaft. Keine Herrschaft. Denken ist nicht erforderlich. Es reicht, wenn man Konsument ist. So lebt es sich im Industriekapitalismus. Aber nicht mehr lange.
Wir sind nicht Teil dieser Gesellschaft. Wir sind Teil der Natur. Wenn wir uns an den Zerstörern der Welt rächen, tun wir das als Teil der Natur. So wie früher einige vermögende Menschen ihre Klasse wechselten und für die Rechte der Proletarier kämpften, haben wir unsere Doppelexistenz als gesellschaftliches und als Naturwesen abgestreift wie die Schlange ihre Haut.
Wir sind nicht mehr Teil dieser Gesellschaft, wir haben mit ihrem Treiben, ihren religiösen, ideologischen, moralischen Zielen nichts mehr zu tun. Wir genügen uns nicht mehr darin, die Brosamen der Welt mit anderen Opfern der Zerstörung zu teilen. Wir lassen uns nicht mehr mit den Sprüchen der Zerstörer abspeisen. Die Opfer von Verkehr, Feinstaub, Bodenversiegelung, Massentierhaltung und Klimaverbrechen haben beschlossen, keine Opfer mehr zu sein.
Die Religionen sind tot. Die alten Aufstandsbewegungen sind tot. Der Sozialismus, der Kampf um gelindere Mittel im Beinhaus der Industrie, ist tot. Der Kommunismus, der Kampf um radikale Wege innerhalb industrieller Zwänge, ist tot. Der Kampf um Linderung der Umweltverbrechen ist Unsinn, ist Lebensverschwendung. Genau betrachtet ist dieser Kampf schädlich, weil er nicht den Feind, die große Industrie, im Visier hat, nur dessen Ausscheidungsprodukte.
Wir sind keine sozialen Wesen, wir sind Wesen des Spiritualismus. Unser Geist wird über die Erde kommen und sie vom industriellen Dreck reinigen. Die Zerstörer der Welt haben ihre Zeit gehabt. Jetzt sind sie organischer Müll, verwesende Kadaver.
Wir sind Müllmänner und -frauen. Wir kippen sie über den Tellerrand. Wir kehren sie in den Orkus. Wir schaffen das Ewiggleiche ab. In uns kommt die Natur, kommt die Welt zu sich. Alles Bisherige war Vorgeschichte. Vertane Zeit, zerstörte Welt.
Wir läuten keine neue Epoche ein. Wir verkünden das Ende aller Epochen. Das Reich der Zerstörung muß vernichtet werden. Unsere Zeitgenossen sind die Fußtruppen der Zerstörung. Folglich müssen auch sie vernichtet werden.
Wir haben unsere Lage erkannt und sind nicht aufzuhalten. Wir sind wenige. Wir brauchen keine Unterstützer. Wir kämpfen nicht um Mehrheiten. Wir brauchen keine Anerkennung.
Unsere Bestimmung ist die Liquidierung des industriellen Lebens, der industriellen Lüge, des industriellen Bewußtseins. Wir machen mit der Gattung Schluß. Ob irgendwann einmal eine Gesellschaft entstehen wird, die sich die Natur nicht zum Feind macht, ist unwichtig. Wichtig ist nur, daß das gegenwärtige System zertreten wird. Wichtig ist das Gedeihen der Insekten.
Deep Green Resistance
3. Kapitel
Madame hat eine Liaison und erteilt einen Auftrag. Wagnerianer im Blühnbachtal
„Ich bin zu früh! Ist das schlimm?“
Madame trug ein dunkelblaues, hochgeschlossenes Kostüm. Das Meisterstück eines Couturiers. Ein funkelndes Collier zierte ihren Hals. In das schwarz gefärbte Haar waren zwei Wellen eingearbeitet. Sie setzten das ovale Antlitz mit den fein geschnittenen Zügen, den nicht zu schmalen Lippen und der griechisch anmutenden Nase auf das Vorteilhafteste in Szene. Vor mir stand eine wunderschöne Frau im goldenen Alter.
Ich muß aufspringen und ihr den Stuhl zurechtrücken, zuckte es durch meinen Kopf. Da ich dazu nicht in der Lage war, machte ich mit aller Grandezza, die ich aufbringen konnte, eine einladende Geste mit der rechten Hand. Mit der linken knüllte ich das Manifest