Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher

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wird Differenzierung „für lange Zeit eine der größten Herausforderungen“ bleiben (Eberle u.a. 2012, 31). Im Bereich der Fremdsprachen ist zudem noch mehr Schulpraxisbezogene Forschung vonnöten, um Konsequenzen für das professionelle Handeln von Lehrkräften ableiten zu können (Eisenmann 2012, 95). Zu Recht fordert Trautmann (2010, 62): „Insbesondere Lehrende mit ihren unterschiedlichen Überzeugungen und Kompetenzen müssen zukünftig viel stärker in den Blick genommen werden, denn letztendlich sind es die Lehrkräfte, die die geforderten Innovationen umsetzen sollen“. Ob und inwiefern Storyline die Lehrkräfte darin unterstützen kann, die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben, um mit der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer konstruktiv umgehen zu können, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.

      1.5 Gewalt, Stress, Langeweile: Der Schulalltag?

      Born to be wild (Steppenwolf)

      Horrormeldungen von schießenden, stechenden oder raufenden Jugendlichen attackieren uns fast täglich aus den unterschiedlichsten Quellen und erwecken den Anschein, dass viele (vor allem männliche) Schüler äußerst gewalttätig und kriminell sind. Studien und Publikationen zum Thema „Gewalt an Schulen“1 häufen sich, seit die Schulgewaltforschung in den 1990er Jahren intensiviert wurde (Fuchs u.a. 2005, 11). Die Thematisierung der Jugendkriminalität in den Massenmedien und den Pressemitteilungen der Polizei beeinflusst allerdings die Wahrnehmung von Delikthäufigkeiten. Laut Dollinger und Schmidt-Semisch (2010) ist beispielsweise die physische Gewaltanwendung gegen Personen in den Medien „deutlich überrepräsentiert“ (Ebd., 11). Trotz kritischer Stimmen aus Wissenschaft und Forschung werden diese Verzerrungen und Pauschalisierungen im Vergleich zu statistisch erhobenen Delikthäufigkeiten „massenmedial und politisch kaum ernst genommen“ (Ebd.).2 Ohne die Problematik verharmlosen zu wollen: Laut Kriminalstatistik 2012 des Bundesministeriums des Innern (nachfolgend: BMI) ist beispielsweise die schwere Körperverletzung Jugendlicher (14-18 Jahre) im Vergleich zu 2011 um 16,5% zurückgegangen (BMI, Hrsg. 2013, 11).3

      Nimmt man zudem Bezug auf die im Jahr 2005 vom Bundesverband der Unfallkassen durchgeführte Studie „Gewalt an Schulen“, dann kommt man zu dem Ergebnis, „dass die Zahl der meldepflichtigen Raufunfälle insbesondere in den letzten Jahren nicht angestiegen, sondern sogar rückläufig gewesen ist“ (Shell, Hrsg. 2006, 140), auch wenn die Anzahl der Schlägereien an Schulen von 2006 auf 2010 um 1 % leicht angestiegen ist (Shell, Hrsg. 2010, 162ff.).4 Somit wird deutlich, dass die öffentliche Meinung bezüglich der zunehmenden Aggression und Gewalt an Schulen irreführend ist, denn die Daten belegen, „dass Jugendgewalt nach wie vor eher auf der Straße oder in anderen öffentlichen Räumen und nicht vorrangig in den Schulen ausgetragen wird“ (Shell, Hrsg. 2006, 140). Spektakuläre Amokläufe sind nicht nur ungewöhnlich, sondern auch singulär (Hurrelmann/Bründel 2007, 72).5

      Eine Langzeitstudie (1994-2004), bei der in Bayern 4.523 Schülerinnen und Schüler befragt wurden, belegt, dass das Gewaltaufkommen vor allem bei den schwerwiegenden Gewaltaktivitäten gesunken ist: „Die massenmedial vermittelte Vorstellung, wonach Gewalt an Schulen immer häufiger auftrete und immer brutaler werde, muss auf Basis unserer Daten zurückgewiesen werden“ (Fuchs u.a. 2005, 107). Nachgewiesen wurden im Rahmen der Studie dagegen Zusammenhänge zwischen Gewalt(formen) und Geschlecht sowie zwischen Gewaltaktivitäten und Bildungsniveau (Ebd., 108), die auch in Untersuchungen von Melzer (2006b, 20), Oertel u.a. (2015, 260f.) sowie in der 15. und 16. Shell Jugendstudie (Shell, Hrsg. 2006, 142; 2010, 23f. und 162ff.) bestätigt werden.6 Ferner gilt als gesichert, „dass ca. 3-5% der Schülerinnen und Schüler unter Mobbing leiden“ (Oertel u.a. 2015, 260). Hier muss die Schule reagieren!

      Antisoziale, aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen haben sowohl erzieherische als auch gesellschaftliche Ursachen. Zwar kommt man bereits in der 15. Shell Jugendstudie zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt, „die Situation übermäßig zu dramatisieren“ (Shell, Hrsg. 2006, 22). Nichtsdestotrotz sind hier entsprechende Präventions- und Interaktionsmaßnahmen erforderlich, beispielsweise auch durch Unterrichtsformen, die die Heterogenität der Lerngruppe berücksichtigen und das soziale Lernen fördern. Wolfgang Melzer (2006b), Professor für Schulpädagogik und Leiter der Forschungsgruppe Schulevaluation an der TU Dresden, fordert, „alte – aber nicht veraltete – reformpädagogische Forderungen nach ganzheitlicher Bildung (...) endlich in Angriff zu nehmen“ (Ebd., 19f.) und somit „den Leistungs- und den Sozialgedanken im Kontext der schulischen Lebenswelt miteinander zu versöhnen“ (Ebd., 23). Gewaltprophylaxe hat auch viel mit Eigenverantwortung zu tun. Wie sich später zeigen wird, sind die genannten Aspekte Kernprinzipien des Storyline-Modells, welches somit gute Dienste erweisen könnte (vgl. Kapitel 2).

      Gewalt im Kontext der Schule kann in unterschiedlicher Form und Ausprägung zutage treten.7 Es würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf alle in Frage kommenden Formen, endogenen und exogenen Ursachen und Auslöser möglicher Gewaltäußerungen einzugehen, so dass ich mich auf eine Auswahl von Gründen für Gewaltaktivitäten in Form von Unterrichtsstörungen beschränke, welche durch eine verstärkte Lernerorientierung, wie dies bei Storyline-Projekten der Fall ist, gemildert oder sogar vermieden werden können.8 Denn Bildungsangebote, die auf demokratiepädagogischen Ansätzen basieren, ermöglichen jungen Menschen, „ihre Potentiale tatsächlich einzubringen“ (Magnus/Sliwka 2015, 459) und fördern somit persönliches Wachstum und positive Entwicklungswege.

      Egal, wie man das Blatt dreht oder wendet: Die Schule trägt allein schon auf Grund der gesetzlichen Schulpflicht ein gewisses Gewaltpotenzial in sich. Lehrkräfte haben zwar kein Recht mehr auf körperliche Züchtigung9, doch der Selektionscharakter der Schule, die Leistungs- und Konkurrenzorientierung, der Wettbewerbscharakter sowie der immense Erwartungsdruck, gepaart mit fehlenden Zukunftsperspektiven, wird von vielen Schülerinnen und Schülern als strukturelle Gewalt empfunden, zumal Zeugnisse als „Berechtigungsnachweise“ für Bildung und die spätere Berufswahl inklusive „Einkommen, Macht und Einfluss“ dienen (Hurrelmann/Bründel 2007, 105).

      Auch die schul- und unterrichtsorganisatorischen Bedingungen können die Entstehung von Gewalt und Unterrichtsstörungen begünstigen: große, anonyme und unübersichtliche Schulen; triste und schlecht ausgestattete Räume10; zu große Klassen; ein gewaltbelastetes Schulmilieu (Fuchs u.a. 2005); „pädagogisch inkongruentes und inkompetentes Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern“ (Hurrelmann/Bründel 2007, 121); eine schlechte sozial-emotionale Klassen- und Unterrichtsatmosphäre (Lösel/Bliesener 2003, 175); schlechte personale Beziehungen zwischen Lehrkraft und Schülerschaft; überwiegend wissenschaftlich orientierte Lern- und Lehrformen (Hurrelmann/Bründel 2007, 115); „langweiliger oder methodisch einseitig durchgeführter Unterricht, der zusätzlich noch Themen beinhaltet, die an der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern vorbeigehen“ (Ebd., 121); fehlender Anwendungsbezug von Unterrichtsinhalten (Fuchs u.a. 2005, 38); fehlende Eigenverantwortung der Lernenden; als unfair oder einseitig11 empfundene Beurteilung von Leistungen oder Verhaltensweisen; pejoratives, aggressives und etikettierendes Lehrerverhalten (Melzer 2006b, 22; Oertel u.a. 2015, 259), wenig förderndes Engagement von Lehrkräften (Fuchs u.a. 2005, 38) und vieles mehr.

      Indem sie den Unterricht bewusst durch sicht- und/oder hörbare Handlungen stören, die Mitarbeit verweigern, rebellieren oder gar resigniert den Unterricht schwänzen12, wehren sich Lernende „gegen die Zwangsinstitution Schule und gegen Unterrichtsformen und -inhalte, die ihnen nicht gefallen“ (Hurrelmann/Bründel 2007, 80). Sie zeigen offen, wenn sie sich durch die ungleichen Machtverhältnisse in ihrer Selbstentfaltung und Selbstbestimmung beeinträchtigt fühlen und verwenden ein vielfältiges Repertoire an Störmaßnahmen, um auf die fehlende Anerkennung ihrer individuellen Bedürfnisse aufmerksam zu machen.

      Disziplinstörungen werden von Lehrkräften zunehmend als eines der größten Probleme empfunden, da sie ein Unterrichten oft gänzlich verhindern. Viele sind deshalb nicht nur verunsichert, sondern gestresst, überfordert und erschöpft. Betrachtet man die zunehmende Anzahl von Publikationen zum Thema „Burnout“ oder „Stress im Lehrerberuf“13, dann wird offensichtlich, dass viele mit der pädagogischen Herausforderung hinsichtlich „der Widerspenstigen Zähmung“ nicht mehr klarkommen und durch Strafmaßnahmen und aggressives Verhalten den psychologischen Druck auf die Schülerinnen und Schüler erhöhen: „Der Druck wiederum führt zu schlechteren Schulleistungen und ist häufiger