Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher

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Meixner und Klaus Müller bereits seit einigen Jahren, auf der Basis des so genannten Pragmatischen Konstruktivismus, konkrete Unterrichtsmodelle für Deutsch als Fremdsprache (DaF) zu entwerfen, „die zeigen, dass im normalen Schulalltag Instruktion und Konstruktion keine ausschließenden Alternativen sind, sondern sich fallweise und sinnvoll ergänzen können“ (Meixner 2005, 191).27 Dazu gehören auch das Verfahren der Produktiven Semantisierung im Bereich der Wortschatzvermittlung oder das dramapädagogische Konzept der Relationellen Dramaturgie.28 Im Übrigen plädiert auch Engelbert Thaler (2008; 2010) für ein Balanced Teaching im Fremdsprachenunterricht, „das offene ebenso wie eher geschlossene Techniken, Verfahren und Methoden verwendet“ (Thaler 2008, 307) – eine Einstellung, wie sie auch in gemäßigt konstruktivistischen Positionen der Erwerbspsychologie vertreten wird;29 Reinmann und Mandl (2006, 638ff.) sprechen in diesem Zusammenhang von einem wissensbasierten Konstruktivismus bzw. von integrierten Lernumgebungen.

      Unabhängig davon wurden seit etwa Mitte der 1980er Jahre einige neue Lernmodelle speziell für das Fremdsprachenlernen entwickelt bzw. adaptiert, die jedoch nicht explizit auf der Grundlage von konstruktivistischen Ansätzen konzipiert wurden, diesen jedoch in vielerlei Hinsicht entsprechen. Dazu zählen – neben dem Storyline Approach – Aufgabenbasiertes bzw. Aufgabengestütztes Lernen30, Simulation globale31, Szenariendidaktik32, Dramapädagogik33, Lernerautonomie34 oder Lernen durch Lehren35, auch wenn diese nach meiner Einschätzung im Bereich des Fremdsprachenlernens nach wie vor wenig zum Einsatz kommen. Dafür gibt es sicher vielerlei Gründe, einer davon mag sein, dass es für Lehrkräfte (und nicht nur für diese) schwierig ist, ein komplexes theoretisches Modell in die Praxis umzusetzen. Dass dies so nicht funktionieren kann, ist, gerade aus der konstruktivistischen Position heraus betrachtet, vollkommen nachvollziehbar. Learning by doing heißt das Zauberwort ...

      3.5 Der Storyline Approach und konstruktiv(istisch)es Lernen

      Creating worlds, constructing meaning (Creswell 1997)

      Das Storyline-Konzept leitet sich zwar ursprünglich nicht direkt vom Konstruktivismus ab, lässt sich aber im Nachhinein zutreffend damit begründen und somit theoretisch absichern. Nachdem im vorangegangenen Kapitel allgemeine Empfehlungen und Anregungen für eine konstruktiv(istisch)e Lernumgebung formuliert wurden, die insbesondere auch für das Fremdsprachenlernen förderlich sind, sollen nun darauf aufbauend einige Bezüge zwischen dem Storyline Approach und konstruktivistischem Denken erläutert werden. Es geht also um die Fragen: Was hat Storyline mit Konstruktivismus zu tun? Und was bedeutet das konkret für das Fremdsprachenlernen mit Storyline? Um Redundanzen mit Kapitel 2 und Kapitel 3.4 zu vermeiden, erfolgt hier lediglich eine Synopse.

      Aus meiner Sicht erfüllt der Storyline Approach aus folgenden Gründen die Anforderungen an eine konstruktiv(istisch)e Lernumgebung im Rahmen des Fremdsprachenlernens:

       Lerninhalte: Das obige Zitat bzw. der Buchtitel von Jeff Creswell (1997) beschreibt die Kernessenz des Storyline Approach und trifft in gleichem Maße auf die diversen konstruktivistischen Denkströmungen zu. In fremdsprachlichen Storyline-Projekten „konstruieren“ die Lernenden deutlich erkennbar in doppeltem Maße: nämlich Inhalte/Bedeutungen und Sprache. Sie erfinden gemeinsam Teile „ihrer“ Geschichte (collaborative storymaking), entwickeln also auf der Basis ihrer individuellen Erfahrungen, Interessen und Ideen sinnerfüllte, „passende“ Inhalte, handeln Bedeutungen aus und schaffen auf diese Weise einen persönlich relevanten, situativen und zusammenhängenden Kontext (z.B. Zoo, Bauernhof): “Learning is the construction of meaning. (...) The narrative plays an important part in meaning-creating processes“ (Letschert 2006, 21).Die Inhalte der story werden in großem Maße von den Lernenden selbst bestimmt, auch wenn die Lehrkraft im Vorfeld ein grobes Konzept entwirft und über key questions und incidents stets die Möglichkeit hat, anregend und lenkend einzugreifen bzw. zu perturbieren, indem sie die Lernenden vor neue Probleme stellt, die im sozialen Gefüge sowohl inhaltlich als auch sprachlich konsensuell gelöst werden: Die Lernenden bilden Hypothesen und testen diese im Rahmen der story aus. Sie konstruieren, rekonstruieren und dekonstruieren Bedeutungen (vgl. Kapitel 3.3.2.2), wenn sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen; Imagination ist ein besonders wichtiges learning tool bei Storyline. Über „richtig“ oder „falsch“ im Hinblick auf den Inhalt bestimmt nicht – wie üblich – die Lehrkraft, sondern die Lerngruppe, nachdem sie selbstständig recherchiert und intensiv beraten hat. Spätestens bei der Präsentation werden eventuelle „Denkfehler“ oder „Sprachfehler“ aufgedeckt, nämlich wenn die Klasse den „Konstruktionsversuchen“ nicht folgen kann und somit keine Verständigung stattfindet. Durch das Hineinversetzen in fiktive Charaktere (z.B. Tourist, Journalistin) lernen die Schülerinnen und Schüler, sich im geschützten Raum auf verschiedene Situationen einzulassen und sich mit verschiedenen Rollen zu identifizieren, was den kognitiven, sozialen und emotionalen Horizont erweitert. Dies ist gerade bei der Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen von Bedeutung.Auf der anderen Seite gehen die Lernenden mit der für den jeweiligen Kontext benötigten Sprache spielerisch und kreativ um, indem sie für ihre Beiträge individuelles Vorwissen (interlanguage) nutzen bzw. darauf aufbauend neue Formen oder Strukturen konstruieren (z.B. Wortbildung, Satzmuster) oder etwa Wortfelder erweitern (vgl. Kapitel 2.3.3.3). Sprache wird – anders als in Schulbüchern – nicht in vorgegebenen bits and pieces und vereinfachten pattern drills benutzt, sondern auf Grund des authentischen Kontexts in sehr individueller Ausprägung: Die Lernenden bestimmen selbst, wie sie sich ausdrücken möchten, und konstruieren je nach Können und Absicht entsprechende sprachliche Mittel. Durch das individuelle und/oder gemeinsame Experimentieren wird nicht nur die Sprachkompetenz, sondern auch das Sprachbewusstsein gefördert.Alles sprachliche Lernen findet in lebensnahen, bedeutungsvollen, komplexen und kohärenten Kontexten statt: “Meaningful education asks for coherence in the curriculum. A story is by definition a meaningful context. (...) Stories are constructions in which facts, remembrances, knowledge and imagination come together“ (Letschert 2006, 19). Wissen, das selbst konstruiert wird, bleibt besser im Gedächtnis haften und ist somit nachhaltiger. Geschichten und persönliche Relevanz erhöhen die emotionale Beteiligung der Lernenden (vgl. Kapitel 2.3.2.1). Emotionen wiederum unterstützen die Verankerung des Gelernten im Gedächtnis und somit die Bildung von komplexen Wissensnetzen (vgl. Kapitel 4.4.2).

       Lernziele: Durch die gemeinsame Auswahl eines Themas einigen sich Klasse und Lehrkraft im Vorfeld auf mögliche inhaltliche Aspekte und Ziele (z.B. Schottland, Robinson Crusoe), jedoch können sich diese im Verlauf des Storyline-Projekts – je nach Ausgestaltung – verändern und erweitern. Weitere – insbesondere sprachliche – Ziele (z.B. Zeiten, Wortfelder) oder methodische Aspekte (z.B. Internetrecherche, Präsentieren) berücksichtigt die Lehrkraft, wenn sie die grobe Struktur der Storyline konzipiert. Allerdings lernen die Schülerinnen und Schüler durch die Offenheit der Aufgabenstellungen weit mehr, als die Lehrkraft in Form von Lehr-Zielen im Vorfeld definieren kann. Durch das selbstbestimmte Lernen entwickeln sie viele individuelle Lernziele (z.B. besser im Team arbeiten, öfter Wörter nachschlagen), die in regelmäßigen Reflexionsphasen besprochen werden.Storyline erlaubt Lernenden und fordert sie sogar dazu auf, Fragen zu stellen, die wiederum plausible Lösungen verlangen: durch Recherche, Interaktion oder Reflexion. Viele dieser Fragen sind im Vorfeld nicht absehbar, sondern werden oft spontan geäußert; sie können dazu beitragen, dass Lernende ganz individuelle Lernziele „konstruieren“, die für den Verlauf der Storyline wichtig sind, aber auch einen Bildungswert haben (z.B. Eruieren, ob Aprikosen auch in Irland gedeihen oder was für ein Habitat Pinguine im Zoo benötigen).Durch die Tatsache, dass die Lernenden im Rahmen der Gruppenarbeit Teilaufgaben auswählen oder eigene Miniaufgaben entwickeln, setzen sie sich immer wieder eigene Ziele und konstruieren wiederum eigene (viable) Lösungen – entweder allein oder im Team. Dies kann sich auf Inhalte, Arbeitsweisen oder Sprache beziehen. Somit wird der Storyline Approach insbesondere heterogenen Lerngruppen gerecht, weil sich alle Mitglieder auf die eine oder andere Weise einbringen können und zum Gelingen des Projekts beitragen. Die Lernenden organisieren ihre Arbeit weitgehend selbstständig (z.B. am Fries, auf dem Flur) und lernen dabei wichtige Strategien für eigenverantwortliches (lebenslanges) Lernen.

       Lernumgebung: Storyline-Klassenzimmer