Schützenhilfe. Gabriel Anwander

Читать онлайн.
Название Schützenhilfe
Автор произведения Gabriel Anwander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919275



Скачать книгу

      GABRIEL ANWANDER

       SCHÜETZENHILFE

      Roman

      1

      Ich sass in der Falle.

      Ich sass in der unsinnigsten Falle, in die ein moderner Mensch geraten kann: im Stau. Kein Grund, nervös zu werden, sagte ich zu mir, ich bin nicht in Eile. Nichts und niemand warteten auf mich, weder Frau noch Kinder noch Haustiere, auch keine unbezahlten Rechnungen, denn seit ich nicht mehr bei der Polizei war, vermochte ich allen finanziellen Forderungen pünktlich nachzukommen.

      Hatte ich nicht alle Zeit der Welt?

      Ich lehnte mich zurück und versuchte mich zu entspannen, so gut dies möglich war hinter dem Lenkrad meines gelben, abbruchreifen Saab, den ich «Elch» nannte, weil er aus Schweden stammte und eine Schnauze hatte wie ein Elch. Vor mir verdeckte ein Lieferwagen die Sicht, links neben mir schnurrte eine protzige schwarze Karosse mit Reifen wie ein Schaufellader, und im Rückspiegel sah ich eine blonde junge Frau in einem Smart; mit der Linken umklammerte sie ihr Mobiltelefon und las SMS.

      Die späte Septembersonne legte ihre Strahlen durch mein Seitenfenster, trieb mir den Schweiss in die Augen und lähmte meine Bemühungen, mit bewusstem Atmen meine Stimmung nicht in den Keller sinken zu lassen. Dabei hätte ich solide Argumente gehabt, trotz Stau zufrieden und gelassen zu bleiben. Ich war mein eigener Chef, und das Geschäft, das ich betrieb, hatte Hochkonjunktur; es warf einiges ab, auch wenn es bisher nicht für einen neuen Saab gereicht hatte.

      Dazu müsste erst einmal ein ganz grosser Auftrag her.

      Normale Aufträge gab es zuhauf. Es war kaum zu fassen, was die Leute über andere in Erfahrung bringen wollten – und wie viel sie dafür hinblätterten. Da gab es Chefs, die wollten wissen, wo ihre Aussendienstmitarbeiterinnen ihren Arbeitstag verbrachten, und verharrten im Argwohn, selbst wenn sich zeigte, dass die Mädchen ihr Gebiet gründlich abgrasten und ihre Mandanten nett beschwatzten, um Bestellungen für überteuerte Produkte hereinzuholen. Da gab es Väter, die bezahlten bar, um Auskünfte über den Freund ihrer Tochter zu bekommen. Und ich staunte, wie viele Frauen es gab (und gibt), die keine Vorstellung davon hatten, wo, wie oft und vor allem in welcher Form ihre treuen Ehegatten auswärts Sex kauften. Der Mann gab mit einer kleinen Unachtsamkeit Anlass zu Verdächtigungen, die Frau quälte sich für drei, vier Wochen, dann rief sie einen Profi an.

      Mich.

      Meine Aufgaben bestanden darin, Informationen zu beschaffen. Ich war stets darauf bedacht, die Dinge weder zu beschönigen noch zu verschlimmern, höchstens ein wenig zu vereinfachen und, ja, manchmal zu kürzen. Wenn eine Aussendienstmitarbeiterin sich anschickte, nebenbei ihr eigenes Geschäft aufzubauen, konnte das – von mir als unwichtiges Detail erachtet – im Bericht unerwähnt bleiben. Andererseits holte ich Auskünfte über den mutmasslichen Schwiegersohn auch dann noch ein, wenn sich die Tochter längst einem anderen hingab. Die Gefahr, dabei ins Abseits zu geraten und unglaubwürdig zu scheinen, stufte ich als gering ein, denn, um beim Beispiel «Schwiegersohn» zu bleiben: Keine Tochter erzählt zuallererst ihrem Vater, dass sie einen neuen Freund hat.

      Kurz gesagt: Ich führte jeden Auftrag aus.

      Und ich hatte einen guten Ruf.

      Die mündlichen Berichte unterschieden sich von den schriftlichen einzig in der Länge und in den Einzelheiten: Es wäre mir peinlich, wenn ich einer Frau gegenüber pikante Details beim Namen nennen müsste, deshalb blieb ich am Telefon an der Oberfläche. In einem schriftlichen Bericht machte es mir hingegen nichts aus, abartigste Wünsche und Praktiken eines Mannes aufzulisten. Hin und wieder trug mir die Detailtreue ein Dankesschreiben ein von der aufgeklärten Ehefrau, die meinte, ich hätte ihr die Augen geöffnet.

      Liebe macht bekanntlich blind.

      Hass übrigens auch.

      Ich stand also wenige Meter nach dem Tunnel im Ostring, Richtung Interlaken. Der Tag ist ohnehin gelaufen, redete ich mir ein und stellte mir vor, was ich als Erstes tun würde, sobald ich daheim sein werde. In meiner Wohnung in Langnau. Ich würde kurz unter die Dusche stehen, mir dann ein kleines Bier aus dem Kühlschrank genehmigen, oder einen grossen Whisky. Bei mir liegt auch der Whisky im Kühlschrank, ich mag weder Bier noch Whisky lauwarm, da könnte ich ebenso gut Tee trinken.

      Es half alles nichts: Alle Fahrzeuge standen, und das brachte mich zur Verzweiflung. Ich begann über die Leute vor und neben mir zu fluchen, die ausgerechnet um dieselbe Zeit, an demselben Ort, in dieselbe Richtung unterwegs sein mussten.

      Dann kam unverhofft Bewegung auf. Wellenartig. Anfahren, beschleunigen, schalten, bremsen, stoppen, warten, von Neuem anfahren, beschleunigen – und so fort. Es rollte abwechslungsweise die linke, dann die rechte Kolonne. Ich entspannte mich. Da sah ich im Rückspiegel, wie sich ein Pickup in unsere Kolonne quetschte, direkt vor den Smart hinter mir. Als die Kolonne nebenan zu rollen begann, drängte der Pickup sofort wieder hinüber und machte erneut einige Meter gut. Schon hatte er mich überholt und blieb neben dem Lieferwagen, der vor mir stand, stehen.

      Ein Slalomfahrer!, dachte ich und versuchte in die Kabine zu spähen, als er an mir vorüberglitt. An der Seite stand in roten Lettern: «Team Gruber, Gokart-Racing», und auf der Ladefläche war ein Gokart festgeschnallt. Ich beschloss, ihnen keine Chance auf einen Spurwechsel zu geben, und fuhr, kaum geriet die Kolonne in Bewegung, dicht auf den Lieferwagen auf.

      Der Pickup scherte sich nicht um mich. Ich sah gerade noch, wie er vorschoss und sich vor den Lieferwagen zu zwängen versuchte – was dieser ihm verwehrte. Gründlich verwehrte, es krachte und knirschte.

      Ich stieg aus.

      Der Pickup-Fahrer, ein junger, leichtfüssiger und geschniegelter Kerl in heller Hose und noch hellerem, weit offenem Hemd, sprang ebenfalls auf die Strasse und trippelte nach vorne.

      Ich ging näher ran, ich wollte nichts verpassen. Der Geschniegelte, möglicherweise der Besitzer des Gokarts, fluchte und schwang seine Fäustchen gegen den Fahrer des Lieferwagens, dieser legte den Rückwartsgang ein und setzte zurück. Scherben fielen zu Boden. Der Mann stellte den Motor ab und stieg aus. Er war allein, ein Handwerker mit einem von grauer Farbe bekleckerten Schlapphut, vermutlich ein Bauarbeiter, Gipser oder Maler. Er schlenderte scheinbar gelassen nach vorne, trat neben den Rennfahrer und besah sich den Schaden. Der Kotflügel des Pickups war eingedrückt, der Blinker zersplittert. Der Handwerker zuckte die Achseln.

      Vor mir stand ein Mann, der im Pickup mitgefahren war, ein muskulöser Bursche. In einer Feuerwehruniform hätte er der Traum aller Schwiegermütter sein können, aber schwarz gekleidet, wie er war, und mit seinem schwerfälligen Tritt in den Schuhen mit den dicken Sohlen sah er aus wie ein Raufbold, den man anheuert, um gefährdete Kredite einzutreiben. (Das ist übrigens auch ein Betriebszweig, der florierte.)

      Folgendes muss ich vorausschicken: Ich kann einige Dinge nicht ausstehen: stumpfe Messer, falsche Hunde, einfältige Festredner, im Stau zu stehen und beim Radfahren verregnet zu werden. Und ich hasse Leute, die einen Streit vom Zaun reissen und danach einen Beschützer oder Verteidiger vorschieben, der sie vor den Konsequenzen bewahrt. Solche Leute trifft man überall auf der Strasse, im Tram, beim Einkaufen, in der Verwaltung, in der Wirtschaft, in der Politik. Vor allem in der Politik.

      Der Bursche vor mir sah mir nach Beschützer aus, und ich befand mich in der passenden Stimmung, den Lauf der Dinge nicht einfach hinzunehmen.

      «He, Sie!», sagte ich, «wir beide sehen bloss zu.»

      Er blickte sich nach mir um, überrascht, mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, man konnte förmlich hören, wie sein mechanisches Hirn in Bewegung geriet, wie ihn das Denken anstrengte, wie er litt. Vermutlich hatte er deshalb seinen Schädel rasiert, um bei aufreibender Gedankenarbeit der Gefahr einer Überhitzung zu entgehen.

      «Was?», fragte er.

      «Warten Sie», sagte ich, «lassen Sie die beiden das allein aushandeln.»

      Er war nicht einverstanden. Er war ganz und gar nicht einverstanden. Er gab mir das mit einem Zeichen zu verstehen, von dem er annahm, dass ich es