Die Wohlanständigen. Urs Schaub

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Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



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sie Deutsch?

      Stoffel nickte.

      Michel wischte sich noch einmal über den Kopf und ging in Richtung der Frau. Er schätzte sie aus der Distanz auf knapp fünfzig. Sie war schlank, wirkte gleichzeitig bodenständig und attraktiv. Sie trug bequeme Kleidung, die in ihrem Understatement ziemlich teuer wirkte. Ihre Fingernägel waren in einem matten Rot lackiert.

      Sie hatte ein Taschentuch vor dem Mund. Jetzt blickte sie hoch, schnäuzte sich die Nase und erhob sich.

      Bleiben Sie ruhig sitzen. Mein Name ist Michel. Serge Michel. Ich bin von der Abteilung Leib und Leben, also ich meine, äh … also von der Polizei.

      Immer noch rutschte ihm aus Versehen die alte Bezeichnung für seine Abteilung heraus. Die Neue mit dem Wort Mord wollte ihm einfach nicht über die Lippen. Er setzte sich neben die Frau auf die Treppe, die zu den Badehäuschen führte.

      Wohnen Sie hier in der Nähe, Frau Meer?

      Sie nickte und zeigte hinter sich in Richtung Kirche.

      Ich wohne dort im Pfarrhaus, also im ehemaligen Pfarrhaus. Es gibt ja hier keinen Pfarrer mehr. Ich wohne seit etwa fünf Jahren hier. Ich gehe jeden Morgen am See spazieren. Zum Abschluss sitze ich immer hier am kleinen Strand.

      Sie schnäuzte sich noch einmal.

      Entschuldigen Sie. Ich bin ganz durcheinander. Ich liebe diesen Ort und jetzt –

      Sie zeigte hilflos in Richtung der Leiche. Ihre Augen irrten unstet umher.

      Ja, das ist furchtbar. Schauen Sie nicht hin.

      Seine Leute hoben die Leiche gerade aus dem Wasser.

      Wann haben Sie ihn denn entdeckt?

      Sie richtete sich auf und versuchte, sich zusammenzunehmen.

      Es war so gegen acht Uhr. Ich bin dann sofort nach Hause ge­rannt und habe die Polizei angerufen. Ich nehme auf meine Spaziergänge mein Telefon nie mit.

      War sonst noch jemand am Strand?

      Sie überlegte einen Moment angestrengt und schob sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aber nicht bändigen ließ.

      Nein. Nicht, dass ich wüsste. Ah, doch. Jemand ist mit dem Fahrrad durchgefahren, also hinter der Badeanstalt. Aber das hat sicher nichts zu bedeuten, oder?

      Michel schüttelte den Kopf.

      Ich denke nicht, nein.

      Er erhob sich.

      Hier ist meine Karte. Falls Ihnen noch etwas in den Sinn kommt.

      Er verabschiedete sich von ihr. Sie erhob sich und ging zögernd ein paar Schritte. Dann wandte sie sich noch einmal um.

      Ich glaube, ich habe den Mann schon einmal gesehen. Ich bin mir aber nicht sicher. Das heißt, ich kann mich im Moment nicht erinnern.

      Sie blickte Michel hilflos an.

      Wenn es Ihnen wieder in den Sinn kommt, rufen Sie mich bitte an, Frau Meer.

      Sie nickte, wandte sich jetzt hastig um und ging eilig weg.

      Michel begrüßte den Gerichtsmediziner, der mit Stoffels Hilfe den Körper zur Seite drehte.

      Und, Kramer? Was ist der erste Eindruck?

      Aus dem Mund des Leichnams ergoss sich ein Schwall trübes Wasser.

      Na ja, nicht jeder, der im Wasser liegt, ist eine Wasserleiche.

      Er deutete auf den Rücken.

      Oh je.

      Michel beugte sich über den Körper.

      Der ging direkt ins Herz, wenn mich nicht alles täuscht.

      Der Arzt nickte.

      Wenn es lang genug war. Genau werde ich es erst im Institut sehen können.

      Und wie lange liegt er schon im Wasser?

      Der Arzt wiegte seinen schmalen Kopf. Der See spiegelte sich in seiner Goldrandbrille.

      Ich schätze, nicht mehr als achtundvierzig Stunden, eher weniger.

      Er zog das Messer heraus und wog es in der Hand.

      Oh, so was hat nicht jeder zu Hause.

      Michel nickte und wandte sich an einen Mann von der Spurensuche.

      Nehmt ihr es mit und untersucht es auf Spuren, Herkunft und so.

      Der Arzt gab Anweisungen, den Leichnam einzupacken.

      Moment! Habt ihr die Taschen untersucht?

      Der Arzt griff sich an den Kopf.

      Oh, entschuldige Michel.

      Michel nickte und kniete sich seufzend neben den Toten. Das ziemlich bunte Hemd mit kurzen Ärmeln hatte eine Brusttasche, die aber leer war. Es handelte sich um ein Hawaiihemd mit ziemlich wilden Farben und Motiven. Die Hose war eine weiße Jeans. Die Schuhe waren blau und von einer einschlägigen Marke, die vor allem junge Leute bevorzugen. In der Gesäßtasche steckte ein schmales Portemonnaie. Die anderen Taschen waren leer.

      Michel erhob sich und durchsuchte das Portemonnaie. Es enthielt nur wenig Bargeld. Keine Kreditkarten und keinen Ausweis.

      Er pfiff durch die Zähne.

      Schaut euch das an.

      Er hob ein Bündel Visitenkarten hoch.

      Unser Mann heißt Beckmann, Dr. Karl Beckmann, wenn ich das richtig entziffere.

      Er übergab das Portemonnaie der Spurensicherung.

      Ich behalte eine der Visitenkarten.

      Der Mann nickte und gab ihm eine kleine Plastiktüte.

      Wenn es denn die seinen sind. Aber das wird sich ja bald herausstellen.

      Gut, dann Abmarsch.

      zwei

      Es war Zeit für ein zweites Frühstück. Michel verabschiedete sich von seinen Leuten, ging übers Bahngleis und schaute zum Pfarrhaus hoch, aber er sah niemanden.

      Meer? Wie kommt man zu so einem Namen?

      Er schüttelte den Kopf, setzte sich in seinen Dienstwagen und fuhr die kurze Strecke zum Bahnhofsrestaurant.

      Er war früher schon öfter mit Tanner hier gewesen und hatte es als äußerst gemütlichen Gasthof in Erinnerung. Vor allem im Sommer unter der Birnenpergola auf der Terrasse. Dazu war es jetzt allerdings noch zu kalt. Er trat in die Gaststube.

      Am Stammtisch saßen zwei alte Männer, mit Gesichtern wie verschrumpelte Äpfelchen, und starrten mit seligem Lächeln auf ihren Kaffeefertig. Michel grüßte und setzte sich an einen der leeren Tische. In der Gaststube war es mucksmäuschenstill. Nur in der Kaffeemaschine zischte dann und wann irgendein Ventil. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er außerhalb der Gaststube leichtfüssige Schritte, die im rhythmischen Galopp eine Treppe herun­terkamen. Kurz darauf war es wieder still, dann öffnete sich die Tür, und herein kam eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie ging eilig hinter die Theke und band sich anmutig eine schwarze Schürze um ihre schlanke Taille. Genauso geschwind stand sie am Tisch und begrüßte Michel.

      Wenn Sie mir Speck mit Rührei machen würden, würde ich ge­nauso selig lächeln wie die Herrschaften am Stammtisch. Und Kaffee natürlich.

      Sie lachte ein helles Lachen und meinte, das könnte sie versuchen, wenn es denn so wenig zu seiner Glückseligkeit bräuchte.

      So schnell, wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder verschwunden.

      Anhand ihres Ganges hätte Michel schwören können, dass sie Tänzerin war. Er lehnte sich zurück und dachte an den Toten im Wasser.

      Weiße Jeans und Hawaiihemd: Das erinnerte mehr an Sommer und Urlaub als an dieses frostige Vorfrühlingsklima.

      Er