Die Wohlanständigen. Urs Schaub

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Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



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Noch keine besonderen Erkenntnisse. Die Leiche wurde schließlich erst vor … – er schaute auf die Uhr – vor vier Stunden und siebenunddreißig Minuten entdeckt. Was erwarten Sie da?

      Von der Werdt, so hieß der neue Polizeichef, ignorierte die Frage.

      Was haben Sie denn die ganze Zeit gemacht?

      Michel starrte ihn an.

      Wie meinen Sie das?

      Der neue Chef verschränkte seine Arme vor der Brust.

      Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt. Was haben Sie in den vier Stunden und siebenunddreißig Minuten gemacht? Ist die Frage so schwer zu verstehen?

      Michel musste erst mal Luft holen.

      Sie wollen wissen, was ich in den vier Stunden und siebenunddreißig Minuten gemacht habe?

      Ja, wenn Sie die Güte hätten.

      Michel verschränkte nun seinerseits seine Arme vor der Brust.

      Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, was ein leitender Kommissar in so einem Falle tut?

      Auf der Stirn des neuen Polizeichefs bildete sich diese schon amtsbekannte kleine Zornfalte, ein Zeichen, bei dem die Untergebenen normalerweise sofort einlenkten. Michel dachte nicht im Traum daran, sondern hielt dem Blick stand.

      Doch, ich kann es mir schon vorstellen, aber ich hätte es gerne von Ihnen gehört.

      Jetzt gab Michel irgendein kleiner Teufel die Sporen.

      Da Sie es sich vorstellen können, brauche ich Ihnen das professionelle Prozedere in so einem Fall ja nicht aufzuzählen. Sobald wir Erkenntnisse haben, werden Sie es als Erster erfahren. Reicht das?

      Nein, das reicht nicht. Das hat bis jetzt vielleicht gereicht. Jetzt nicht mehr.

      Aha. Und warum nicht?

      Michel spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und er verfluchte sich innerlich.

      Weil ich glaube, dass ihre Methoden veraltet sind. Zu langsam, zu konventionell.

      Ach, so ist das? Heißt das, ich gehöre zum alten Eisen?

      Rumpelstilzchen lächelte, das heißt, sein Mund verzerrte sich ein wenig.

      Nein, nein. Nicht, wenn Sie lernfähig sind.

      Aha.

      Michel richtete sich auf.

      Und von wem soll ich lernen?

      Auch diese Frage ignorierte der Polizeichef.

      Wissen Sie schon, wie der Tote heißt?

      Dr. Karl Beckmann.

      Er lehnte sich an den Türrahmen und steckte die eine Hand lässig in eine Hosentasche.

      Wissen Sie auch, wer Karl Beckmann ist?

      Michel sah sich jetzt wohl oder übel gezwungen, zu einem Tuch zu greifen, um sich Kopf und Gesicht abzutrocknen.

      Nein. Ich bin erst gerade ins Haus –

      Von der Werdt unterbrach ihn.

      Sehen Sie! Das meine ich: Sie sind langsam.

      Er richtete sich auf und wippte auf den Füssen.

      Karl Beckmann ist ein angesehener Finanzmann und arbeitet als Treuhänder. Ich habe Ihnen die Adresse rausgesucht. Hier ist der Zettel.

      Michel stand auf und holte sich das Papier.

      Sie meinen: Er war.

      Ja, natürlich. Er war ein angesehener Finanzmann.

      Von der Werdt hustete vor Ärger. Er hasste es, wenn ihm auch nur der kleinste Fehler passierte.

      Es ist also höchste Diskretion angesagt, wenn Sie verstehen, was ich meine.

      Nein, das verstehe ich nicht. Wie meinen Sie das?

      Alle Erkenntnisse gehen über meinen Schreibtisch. Ich allein bestimme, was an die Presse geht.

      Er drehte sich auf dem Absatz und verschwand.

      Michel kochte vor Wut.

      Dieser arrogante Schnösel. Der verhält sich genauso wie seine Partei in der Öffentlichkeit. Haben keinen Respekt vor gar nichts, verhalten sich wie durchgedrehte Elefanten im Porzellangeschäft. Tun alles, damit ihnen ihre frustrierte und bornierte Wählerschaft zujubelt. Keine andere Partei fordert so lautstark und beharrlich die härtere Bestrafung von Kriminellen. Sie beklagt sich über Kuscheljustiz und fordert Opferschutz statt Täterschutz. Als ob es das nicht gäbe. Und wenn es um Ausländer geht, ihre sofortige Abschiebung, auch in Krisenregionen. In großflächigen Zeitungsinseraten wirbt sie derzeit damit, die sogenannten Fakten zu präsentieren. Ein ganz besonderes Ärgernis sind ihre dümmlichen Plakate zur Ausländerproblematik. Vor lauter Abschiebung und Durchsetzung vergessen sie die kriminellen Inländer, und zwar die in ihren eigenen Reihen, die – wären sie Ausländer – vielfach des Landes verwiesen werden müssten. Die Skandalchronik dieser Partei war bereits endlos: Unterschlagung, Drohung, Betrug. Die Liste der in Strafverfahren verwickelten Parteikollegen des Polizeichefs wurde über die Jahre länger und länger.

      Michels Wut steigerte sich unaufhaltsam.

      Und dann dieser weißhaarige Vaterlandsfanatiker, der aus jeder Rede geifernde Nationalfeier-Wutausbrüche machte und behauptete, er sei der Einzige, der den Leuten reinen Wein einschenkte. Ganz zu schweigen – und bei dem kam ihm nun wirklich die Galle hoch – von dem schmallippigen Totenköpfchen mit den starr blickenden Augen, der gegen die Ausländer hetzte und mit einer Asiatin verheiratet war.

      Und jetzt saß vor seiner Nase ein Chef, der sich stolz brüstete, Teil dieser Bande zu sein. Der will uns hier rumkommandieren, dabei geraten die selber andauernd mit dem Gesetz in Konflikt. Ehemalige und amtierende Politiker, und zwar auf jedem politischen Niveau. Und jetzt müssen ausgerechnet wir hier so einen Querkopf vor der Nase haben, der keine Ahnung von der Polizeiarbeit hat.

      Kurz darauf tauchte der Kopf Sommers im Türrahmen auf.

      Ist die Luft rein?

      Michel nickte.

      Sommer war so was wie der Bürochef der Abteilung und zu­ständig für alles. In den ersten Jahren seiner Anstellung war er fürchterlich begriffsstutzig gewesen, das hatte sich in den Jahren allmählich etwas gebessert. Er war alleinstehend, und sein Beruf war sein Ein und Alles.

      Hier ist alles zusammengestellt, was man über Beckmann weiß.

      Er reichte Michel ein dünnes Mäppchen.

      Darin sind auch die Telefonnummern und die Adresse.

      Danke, Sommer.

      Er blieb stehen.

      Ist noch was?

      Äh, wir kriegen einen neuen Assistenten, äh … also, ich meine, eine Assistentin.

      Michel schnaubte ärgerlich.

      Ich brauche keine Assistentin. Was soll das? Ich habe keine beantragt.

      Sommer sprach nun ganz leise und lispelte vor Aufregung.

      Ja, Rumpelstilzchen hat sie extra für Sie engagiert. Hat er das nicht gesagt?

      Michel schüttelte seinen Kopf.

      Nichts hat er mir gesagt. Also, ich habe jetzt keine Zeit für solche Fisimatenten. Ich habe einen neuen Fall.

      Sommer trat verlegen von einem Fuß auf den andern.

      Sie ist aber schon hier.

      Er deutete auf den Nebenraum.

      Und ER will, dass sie bei dem Fall mitarbeitet.

      Michels Kopf lief rot an.

      Verdammt! Das hat mir gerade noch gefehlt.

      Sommer hob hilflos die Hände.

      Tut