Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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Nun höre, Gaston, du bleibst zum Nachtessen da, wir machen eine gute Flasche auf, ich werde gleich …» Er hatte sich, den einsetzenden Protest abwehrend, langsam erhoben, aber zugleich mit ihm erhob sich auch sein Schwager und ergriff seinen Arm, mit der Beteuerung, daß dies ganz ausgeschlossen sei, er bedauere außerordentlich, aber es gehe wirklich nicht.

      Ammann ergab sich und bat ihn, wieder Platz zu nehmen, aber Junod nahm nun unerbittlich Abschied. Frau Barbara, von ihrem Mann herbeigerufen, wickelte rasch die Rosen aus der Kristallvase in ein Seidenpapier und drückte sie dem Professor, der sie kaum anzunehmen wagte, mit einem Gruß an seine Frau und der dringenden Einladung zu einem baldigen Besuch energisch in die Hand.

      Unter der Haustür wandte sich Professor Junod noch einmal um und nickte mehrmals, dann ging er, den Rosenstrauß in der Rechten, mit einem Ausdruck des Bedauerns langsam und nachdenklich die Straße hinab.

      4

      Fred, der auch in den Wiederholungskurs einrücken mußte, kam am Abend vorher aus den Ferien zurück, die er bei Onkel Robert auf dem Lande verbracht hatte. Er ließ sich von Mama küssen, beantwortete Fragen und richtete Grüße aus, dann stieg er mit dem Koffer in sein Zimmer hinauf.

      «Ich hab’ dir alles gerüstet», rief ihm die Mutter nach. «Der Tornister steht unter dem Stuhl, und Wäsche liegt auf dem Bett. Sieh nach, ob nichts fehlt! Und wenn du baden willst, sag’s!»

      Er trat in sein Zimmer, das er fünf Wochen lang nicht mehr gesehen hatte, und blieb einen Augenblick stehen, ein großer Bursche mit einem sehr jugendlichen, fast knabenhaften Gesichte, das zu seiner ausgewachsenen Gestalt in einem eher liebenswürdigen als störenden Gegensatze stand, und mit kurzem, schlicht zur Seite gekämmtem braunem Haar. Das Zimmer sah ungewohnt ordentlich aus und duftete nach dem Kampfer, mit dem die sorgliche Mutter das Militärkleid vor Motten geschützt hatte. Der Waffenrock mit den weißen Korporalstreifen auf den Ärmeln hing an einer Stuhllehne neben dem Bett, auf dem Sitz lagen die gebügelten Hosen, und darauf ruhte genau in der Mitte, mit der Bataillonsnummer gegen den Beschauer, das Käppi.

      Fred schlitterte den schweren Koffer in die Mitte des Zimmers, setzte sich das Käppi auf, das bei jeder Kopfbewegung noch immer wackelte, und warf es mit einem sauern Lächeln auf die Bettdecke, dann zog er den Tornister am Tragriemen unter dem Stuhl hervor, ließ ihn pendeln und warf ihn ebenfalls weg. Die Mißachtung dieser Dinge wog aber nicht sehr schwer, er war jedenfalls Korporal geworden und hatte gegen seine Einberufung zur Offiziersschule im nächsten Sommer nicht eben viel einzuwenden. Der Militärdienst stand jedem gesunden jungen Schweizer so unweigerlich bevor wie die Steuerpflicht, und was weiter geschah, war Papas Ratschluß; er fühlte sich zwar, nachdem seine erste Neugier in der Rekrutenschule verflogen war, nicht dazu geboren, aber er hegte auch keine entschiedene Abneigung dagegen, und da von seiner Zustimmung außerdem wenig abhing, mochte denn alles so weiterdauern.

      Gemächlich begann er den Koffer auszupacken und stieß unter der ersten Wäscheschicht auf ein Buch, das er sogleich in die entfernteste Ecke schmiß. Diese Mißachtung wog schwerer. Es war Osers Taschenausgabe des Schweizerischen Obligationenrechts, die er aus Pflichtbewußtsein in die Ferien mitgenommen, aber nie geöffnet hatte. Während er Kleider und Wäsche gedankenlos auf zwei Stühle türmte, beschlich ihn ein dunkles Unbehagen, das mit dem Beschluß und der Notwendigkeit zusammenhing, seinen Eltern heut abend etwas sehr Unangenehmes zu gestehen.

      Fred hatte sich nach einem ordentlichen Reifezeugnis zum Studium der Rechte entschlossen, nicht weil er sich dazu gedrängt fühlte, sondern weil man sich vor den Toren der Hochschule notwendigerweise für etwas entscheiden muß. Jetzt war ihm die Juristerei verleidet, er brachte für dieses ausgeklügelte Netz von Gesetzen und Rechten keine Anteilnahme mehr auf, und gegen die Politik hegte er eine heimliche, aber entschiedene Abneigung. Außerdem besaß er jenes flüssige Mundwerk nicht, das vielen seiner Studiengenossen eine erfolgreiche Laufbahn schon jetzt verbürgte, und so schien es ihm nach seinen zwei Semestern denn höchste Zeit, dies fruchtlose Bemühen aufzustecken. Er hatte den heutigen Abend bestimmt, um es Papa mitzuteilen. Morgen früh um neun Uhr würde er sich dann bereits bei seiner Einheit befinden, weit ab vom Sturm des Unwillens, den sein Geständnis im väterlichen Herzen verursachen mochte, und vorläufig sicher vor all den überflüssigen Fragen und Erklärungen, die einem derartigen Ereignis im weitern Familienkreise zu folgen pflegten. Er haßte es, wenn man die Wichtigkeit eines Vorfalles übertrieb, und es brauchte sehr wenig, um in ihm das Gefühl zu erwecken, daß wegen eines Fliegendrecks wieder einmal mit allen Glocken geläutet werde.

      Im Koffer blieb eine Blechbüchse zurück, die er nun auch herausnahm und mit einem leisen, zwiespältigen Lächeln öffnete. Sie enthielt einen gebleichten Katzenschädel, den er auf einem Streifzug durch den Wald mit seinem Vetter Christian vor einem Fuchsbau gefunden hatte. Er trat damit vor einen mannshohen doppelten Kasten, dessen obere Hälfte hinter einem Glasfenster all jene merkwürdigen Dinge enthielt, die ein junger Gymnasiast und Liebhaber der Naturkunde zu finden und aufzubewahren pflegt. Hier waren Vogelnester, Mineralien, Versteinerungen, Skelette, Muscheln zur Schau gestellt, und zwei von Mutters kleinen Konfitürengläsern bargen in Spiritus eine Ringelnatter und einen Feuersalamander; in den Schubladen der untern Hälfte ruhten Käfer, Raupen, Schmetterlinge und gepreßte Pflanzen. Er legte das kleine Knochengebilde, dem der Unterkiefer fehlte, neben zwei andere Schädel und blieb mit einem schwankenden Gefühl vor dem offenen Kasten stehen. Er kam sich kindisch vor, und zugleich berührte ihn ein Hauch jener Liebe, mit der er damals diese Dinge zusammengetragen hatte. Seither war die Sammlung unberührt und bis zu dieser Stunde unbereichert geblieben, denn es war wirklich eine belanglose Sammlung, und nie hatte er ihr die Bedeutung beigemessen, die sie jetzt für ihn anzunehmen schien. Er konnte ja nicht einfach die Juristerei aufstecken, er mußte umsatteln, und er wußte durchaus nicht, welches Pferd er reiten sollte außer dem, das einst in anderer Gestalt sein Steckenpferd gewesen war.

      Jetzt stand er aber da und erwog mit wachsenden Bedenken den Unterschied zwischen einer knabenhaften Liebhaberei und der Naturwissenschaft. Vielleicht würde er das Studium niemals bewältigen, das die ernsthafte Beschäftigung mit Mineralien, Schmetterlingen oder Pflanzen voraussetzte, und es war ihm fast unmöglich, sich auch nur als Lehrer der Naturkunde an der Mittelschule vorzustellen, geschweige denn als Dozent auf dem Hochschulkatheder. Was aber blieb ihm dann übrig?

      Er trat an ein Fenster und blickte entmutigt über den Garten weg auf die von heimkehrenden Arbeitern, Ladentöchtern und Büroleuten geschäftig belebte Straße hinaus. Warum mußte man einen Beruf wählen, wenn man keine Lust dazu hatte? Warum konnte man nicht alles etwas leichter nehmen, bummeln, wenn man bummeln wollte, und auf die Examen pfeifen? Am Ende war es doch gleichgültig, was man vorstellte, und verhungern würde man kaum.

      Er spann diese Möglichkeit weiter aus, aber schon nicht mehr ernsthaft; im Grunde war er weit entfernt davon, er besaß alle Vorbedingungen zu einem anständigen Leben und hatte keine Ursache, seinen Eltern Enttäuschungen zu bereiten, auch wenn er augenblicklich ein wenig in der Luft hing. Er wollte es in Teufels Namen mit der Naturwissenschaft versuchen, da es ohne Berufsstudium nun einmal nicht ging, und er blieb dabei, seinen Entschluß den Eltern beim Abendessen mitzuteilen.

      Er bestellte sein Bad, zog sich aus und lief im Schlafanzug barfuß über die kühlen Steinfliesen ins dampfende Badezimmer.

      Nach einer Weile kam langsam, mit einem gekränkten Ausdruck, Frau Barbara die Treppe herauf. Paul war nicht zurückgekehrt, er hätte längst hier sein müssen, und Papa war darüber so aufgebracht, wie sie ihn selten gesehen hatte. Ihr war unbehaglich zumute.

      Als sie am Badezimmer vorbeikam, hörte sie Fred plätschern und blieb auflächelnd einen Augenblick stehen. «In einer Viertelstunde können wir essen, Fred!» rief sie und ging weiter in Freds Zimmer, wo sie mit einem liebevoll verurteilenden Kopfschütteln die Unordnung wahrnahm und sogleich aufzuräumen begann.

      Sie war noch da, als Fred aus dem Bade kam. «Ordnung hast du im Rusgrund nicht gelernt!» sagte sie entschieden. «Hast du Papa schon gesehen? Ja, brauchst dich dann nicht zu wundern … er ist wütend.»

      «Warum? Was ist los?»

      «Paul hätte doch morgen auch einrücken müssen … jetzt ist er nicht heimgekommen. Und Papa hat ihm doch für eine Stelle sorgen wollen