Название | Schweizerspiegel |
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Автор произведения | Meinrad Inglin |
Жанр | Языкознание |
Серия | Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919954 |
Ammann, sein Besitzer, warf einen flüchtigen Blick durch das Tor, das längst nicht mehr geöffnet wurde und dessen Wappen auch nicht sein Wappen war, einen betont gleichgültigen Blick, dann trat er durch eine schmale Seitenpforte und stieß hinter sich das Gittertürchen unbedachtsam hart ins Schloß.
2
«Paul hat geschrieben», sagte Frau Barbara, als Ammann schon die Tür zum Büro öffnete. «Er kommt in acht Tagen heim.»
«In acht Tagen?!»
«Ja … das schreibt er», antwortete sie achselzuckend.
Ammann blickte eine Weile mit gerunzelter Stirn auf seine Frau, die sich vor einem offenen Wandschrank etwas zu schaffen machte, als ob die ganze Geschichte sie nichts anginge, dann legte er drinnen seine Mappe ab und trat wieder unter die Tür. «Du hast ihm doch geschrieben, daß …»
«Jaja, er weiß es schon», unterbrach sie ihn.
«So … ja, wenn dieser junge Herr meint, er könne sich noch einmal drücken, mit seinem Auslandsurlaub …»
«Drücken …!» erwiderte sie und blickte ihren Mann mit einer entschiedenen Kopfbewegung an. «Vielleicht kann er halt nicht früher fort.»
«Ja wahrscheinlich! Wenn man über ein Jahr lang gebummelt hat, ist es besonders schwer, zur rechten Zeit einzurücken. Er hat schon seinen letzten Wiederholungskurs versäumt … jetzt hört das auf!» Er trat in sein Büro und wechselte mit knappen, entschlossenen Bewegungen den Rock.
Er hatte auf Grund fortschrittlicher Anschauungen und mit kluger Einsicht in die veränderte Seelenlage der heranwachsenden Jugend seine vier Kinder nicht allzu streng erzogen, ja er hatte ihnen mehr Freiheiten gewährt, als ihm oft selber angemessen schien. Severin, sein Ältester, war dabei ein selbständiger Mann und frühzeitiger Familienvater geworden, Gertrud hatte von ihrem Mädchenalter an zu Vorwürfen kaum mehr Anlaß gegeben, Fred, der Jüngste, der noch mitten im Studium steckte, war ein lieber Kerl und verdiente alles Vertrauen; mit Paul aber klappte nun etwas nicht. Dieser intelligente, nach dem allgemeinen Urteil ungewöhnlich begabte junge Mann hatte Philologie studiert und sich nach dem Examen für ein Jahr ins Ausland begeben, «zur weiteren Ausbildung», was niemand allzu wörtlich nahm. Dieses Jahr war abgelaufen, aber statt daß der Herr Sohn inzwischen eine Stelle angenommen oder wenigstens zur rechten Zeit die Rückreise angetreten hätte, trieb er sich noch jetzt beschäftigungslos in München herum. Eine Anstellung stand ihm nun zwar durch die Vermittlung seines Onkels Gaston in Aussicht, aber daß er sich von seiner militärischen Pflicht ohne Grund noch einmal zu drücken suchte, hieß denn doch die väterliche Nachsicht auf eine harte Probe stellen.
Ammann legte ein Blatt vor sich hin, zückte die Feder und bedachte sich mit gesammelter Miene einen Augenblick, dann schrieb er, ohne zu stocken, mit kurzen, kräftigen Zügen: «Der Wiederholungskurs Deines Regiments beginnt am 6. Oktober. Ich erwarte von Dir, daß Du zur rechten Zeit heimkehrst. Mit Gruß Dein Vater.» Er adressierte den Umschlag an Herrn Dr. Paul Ammann, schrieb dick darüber «Expreß» und übergab ihn unverschlossen seiner Frau.
Damit war dieser Zwischenfall für ihn erledigt, er brannte sich eine Zigarre an, entfaltete das ausführliche Schriftstück mit dem Angebot der Genossenschaft und lehnte sich zurück, um die Angelegenheit noch einmal zu bedenken. Sein Blick ruhte auf einem Ölbild, das ihn längst nicht mehr abzulenken vermochte, einer sehr farbigen Darstellung von Bourbakis frierenden Soldaten und ihrer Entwaffnung durch die Schweizer Armee im Winter 1871. Dieses Bild, ein nüchterner Aktenschrank, der überladene Schreibtisch und eine Menge anderer Dinge paßten nach dem Urteil aller Kunstverständigen nicht in diesen Raum mit seiner schönen Stuckdecke, der zarten Landschaft über der Tür und dem prachtvollen alten Ofen. Er gab es zu, aber er hatte noch nie darunter gelitten. Dagegen kam seine Frau in den übrigen Räumen dem Stil des Hauses mit gutem Geschmack entgegen, er zollte ihr dafür alle Anerkennung und bezeugte wenigstens auf diese Art seinen Kunstsinn, den er als Eigentümer eines solchen Hauses denn doch nicht verleugnen durfte. Dieses Zugeständnis an den Geist verflossener Jahrhunderte und jener dunkle Widerstand beim Gedanken an den Hausverkauf hingen mit seiner Pflicht zur Repräsentation zusammen, und das nicht sehr ursprüngliche Gefühl dieser Pflicht war der einzige konservative Rückstand in seinem Wesen. Er war ein Mann seiner Zeit, ein Mann des Fortschritts, der Entwicklung, ein Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle, und da ihm für das Haus jetzt ein wirklich anständiger Preis geboten wurde, konnte er wohl auch diesen Rückstand überwinden und mit seiner Familie vorläufig die in Aussicht genommene Mietswohnung beziehen.
Diese Frage beschäftigte ihn vor allem, nachdem er zur Überzeugung gekommen war, daß die gebotene Summe einen angemessenen Preis darstelle und der Verkauf nicht länger hinausgezögert werden dürfe; ein abermaliger Aufschub blieb ein Wagnis, das wußte er so genau wie der vorwitzige junge Anwalt. Ein geeignetes älteres oder neues Haus nun war in der Stadt gegenwärtig nicht zu finden gewesen, und selber ein Haus zu bauen, schien ihm übereilt, bevor sich gewisse Verhältnisse abgeklärt hatten. So bot sich als einfachste Lösung noch immer die Miete einer ihm und seiner Frau bekannten Wohnung, die nächstes Jahr, auf den 1. April 1914, frei wurde, einer sehr geräumigen Fünfzimmerwohnung im Stockmeierschen Haus an der Dufourstraße.
«Barbara!»
Seine Frau kam aus dem Wohnzimmer herüber, beugte sich leicht über das Schriftstück, das er ihr schweigend hingeschoben hatte, und begann es zu lesen, während er sie mit gelassener Neugier betrachtete. An der Summe blieb sie einen Augenblick hängen, das Folgende überflog sie nur, dann ging sie zum aufgehängten Rock, der wohl gebürstet werden mußte.
«Jaa …» sagte er gedehnt, «das ist mehr als ich erwartet hatte, offen gestanden. Jetzt heißt es zugreifen.»
«Und dann?» Sie hatte knapp angehalten und stand nun da, den Kopf etwas emporgeworfen, den lebhaften Blick auf ihren Mann gerichtet, sehr von oben herab, wie es schien, mit einer zugleich betrübten und herausfordernden Miene. Dieses beinah schroffe Auftreten, die bündige Frage und der beleidigte Anflug ihrer Miene waren Ammann vertraut; weder er noch die Kinder hatten unter ihrer herben Entschiedenheit jemals ernstlich gelitten. Es war ihre Art, keine mürrische, schlimme oder hochmütige, sondern eine gerade, im Grunde heitere und lebhafte Art. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren besaß sie das Temperament eines lebenskräftigen jungen Mädchens, nur konnte sie sich bis zum Äußersten beherrschen, aber freilich auch sprudelnd herausfahren, wenn es nötig war. Jetzt stand sie da vor ihrem Mann, eine dunkelgekleidete, große, vornehme Gestalt mit grauem, ehemals fast schwarzem Haar, mit einem vollen, mütterlichen, um Mund und Augen stolz bestimmten Gesicht von gesunder Farbe, und mit dem Ausdruck leicht gekränkter Würde, der sich bei ihr in solchen Fällen unweigerlich einstellte.
«Ich wäre für die Wohnung bei Stockmeiers», antwortete er ruhig. «Vorläufig würde uns das doch genügen …»
«Ich habe dir schon gesagt, es ist ein Zimmer zu wenig», erwiderte sie bedauernd. «Ein Wohnzimmer, ein Salon, ein Büro für dich, ein Schlafzimmer, Freds Zimmer … und wo soll dann Paul schlafen?»
«Paul wird nicht mehr in der Stadt wohnen, wenn er am Graberschen Institut ist.»
«Er ist noch nicht dort.»
«Jaja … da brauchen wir uns keine Sorge zu