Lenin dada. Dominique Noguez

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Название Lenin dada
Автор произведения Dominique Noguez
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550327



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noch einmal fest, dass Richter in diesem Augenzeugenbericht zugibt, Lenin gekannt und gehört zu haben, und sei es nur von weitem.

      Von Lenin hörten wir sehr wenig – sie sagten, er sei einmal ins Cabaret gekommen –, ich sah ihn nie. Ich weiss nicht einmal, wie er aussieht.14

      Diese Information wird vom Kunstkritiker Hans J. Kleinschmidt bestätigt. In seinem Vorwort zu Huelsenbecks Memoirs of a Dada Drummer entschlüpft ihm jedoch noch eine andere Information, deren Bedeutung uns schon bald im umfassenden Sinn klar werden wird:

      Arp, Ball und Huelsenbeck sind Lenin nie begegnet, wohingegen Tzara später gegenüber Freunden in Paris erzählte, er habe mit ihm «Ideen ausgetauscht» …15

      Der Schweizer Historiker Sergius Golowin unterstreicht 1966 also durchaus zu Recht die Tatsache, dass sich «zumindest rein geografisch» der Dadaismus und der Bolschewismus «berührten».16 Aber es kommt noch besser. Es gibt ein anderes Zeugnis, wie jenes von Richter aus erster Hand, doch darüber hinaus von jemandem, der vor Richter, ja selbst noch vor Huelsenbeck, nämlich seit dem 5. Februar 1916, dem Tag der Eröffnung, im Cabaret Voltaire anwesend war: Es ist jenes des rumänischen Malers Marcel Janco. Wir wundern uns nur, dass es unbemerkt geblieben sein soll, verloren in einem 1957 publizierten Gemeinschaftswerk, und dass noch niemand die ausserordentliche Information, die es in seinem zehnten Paragrafen birgt, enthüllt hat:

      [Das Cabaret Voltaire] war der Treffpunkt der Künste. Hier trafen sich Maler, Studenten, Revolutionäre, Touristen, internationale Betrüger, Psychiater, die Halbwelt, Bildhauer und nette Spione auf der Suche nach Informationen. Im dichten Rauch, inmitten von Rezitationen oder Volksliedern erschien plötzlich das eindrucksvolle mongolische Gesicht Lenins, umgeben von seiner Gruppe, oder Laban, der grosse Tänzer mit dem assyrischen Bart.17

      Lenin, und umgeben von einer Gruppe! Welch wundervolle Offenbarung mit unabsehbaren Folgen! Also begnügt sich der zukünftige Führer der sowjetischen Revolution nicht damit, Nachbar des Cabaret Voltaire zu sein, er betritt es! Auch gibt er sich nicht damit zufrieden, zu Hause die undeutlichen Geräusche der DadaSoireen zu hören: Es zieht ihn hinein! Mehr noch – und es sei uns die starke Wirkung einer solchen Feststellung verziehen –, er macht mit! Dies wenigstens ist die Schlussfolgerung, die, wie auch wir, alle Gutgläubigen zwingend ziehen müssen, sofern sie bereit sind, das Bündel Tatsachen, das wir im Folgenden zur Sprache bringen werden, mit Geduld und Sachlichkeit zu prüfen.

      II

      Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret

      Eine Bemerkung zunächst: Was Janco wie beiläufig offenbart hat, dürfte diejenigen, die mit der Lebensgeschichte Lenins vertraut sind, nicht überraschen. Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret hat ihren Ursprung nicht erst im Jahr 1916. Die durchaus verständliche Verschwiegenheit von Historikern oder Zeugen desselben politischen Lagers, wie auch jene des Betroffenen selbst in seiner Korrespondenz, konnte nicht verhindern, dass einige präzise Hinweise durchgesickert sind. Krupskaja verrät uns schon viel, wenn wir sie nur richtig zu lesen wissen. Die 1901 bis 1902 in München verbrachte Zeit etwa blieb dem revolutionären Paar, wie sie schreibt, «stets in angenehmer Erinnerung». Schamhaft versucht sie, «die harmlose Fröhlichkeit zu erklären, mit der wir uns auf dem Karneval amüsierten, und jene übermütige Laune, die allerseits (…) herrschte».18 Ein wenig später, in London, treibt sein Gefallen an der Arbeiterklasse Wladimir Iljitsch gar so weit, sich überall dorthin zu begeben, «wo er die Massen traf: ins Freie, (…) in die Trinkhallen …».19 Zudem verrät sie uns an anderer Stelle, dass Lenin den Gesang liebt:

      In Paris begeisterten wir uns, wie ich mich erinnere, eine Zeit lang für das französische revolutionäre Chanson. Wladimir Iljitsch schloss Bekanntschaft mit Montéhus, einem ausserordentlich talentierten Verfasser und Sänger revolutionärer Lieder.20

      Das Ehepaar geht an die entlegensten Orte, um den Sänger zu hören. Aline, ein Zeitzeuge, schildert die erste Begegnung:

      Nach der Vorstellung von Montéhus verschwand Lenin. Wir suchten ihn im Saal, aber er war nicht mehr da. Wir erfuhren, dass er hinter den Kulissen Bekanntschaft mit dem Chansonnier geschlossen hatte. Im Laufe ihrer Unterhaltung begeisterten sie sich derart füreinander, dass sie, ohne es zu merken, bis vier Uhr morgens blieben.21

      Diese «Begeisterung», die uns einen nachtschwärmerischen Lenin offenbart, führte sogar zu einer Einladung: «Montéhus», schreibt Krupskaja, «kam einmal an einer unserer russischen Soireen singen.»22 (Man merke sich den Ausdruck.) Fahren wir fort: In Brüssel fand im Juli / August 1903 der zweite Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands statt. Krupskaja berichtet:

      Die Delegierten schlugen im «Goldenen Hahn» ihr lärmendes Quartier auf, und Gussew [Delegierter der Don-Region] sang abends, wenn er ein Gläschen Kognak getrunken hatte, mit so mächtiger Stimme Opernarien, dass sich unter den Fenstern des Gasthofes eine Menge ansammelte. Wladimir Iljitsch liebte Gussews Gesang sehr. Besonders gern hörte er das Lied «Nicht in der Kirche sind wir getraut».23

      Bei seinem Biografen Jean Jacoby lesen wir, dass sich der berühmte Mann nicht damit begnügte, zuzuhören:

      … während der Kongress-Arbeiten isolierte sich die Gruppe von Lenin; abends versammelte man sich in einem Kaffeehaus, wo die lärmende Bande mit ihrem Heisshunger, ihrem Lachen und ihren Gesängen die Stammgäste in Staunen versetzte. Der Russe ist Musiker aus Instinkt; er hat das Bedürfnis, seine Empfindungen lyrisch auszudrücken. Es brauchte sich nur eine Melodie zu erheben, ein Motiv, und sei es kaum hörbar, von weit entfernt, die Diskussionen verstummten, die Gesichter veränderten ihren Ausdruck je nach Laune der Musik. Und so sang man im Chor …24

      Ein weniger schönfärberisches, dafür ernsthafteres Bild zeichnet sein Bruder Dmitri, wenn er uns dessen Freude am Singen – allein oder in der Gruppe – bestätigt. Sie kam wahrscheinlich von der Mutter, denn sie «liebte das Klavierspiel sehr. Sie musizierte und sang viele alte Lieder und Romanzen.»25 «In den Jahren 1888 bis 1890», präzisiert Dmitri Uljanow, «sang Wladimir Iljitsch oft mit Olga [seiner Schwester] zum Klavier»; und er fährt fort, Lenins Lieblingslieder – darunter das berühmte Kriegslied von Valentin aus dem Faust von Gounod – aufzuzählen.26 Ebenso berichtet uns Krupskaja, wie sie und Lenin einige Jahre später während des Exils in Sibirien, wo sie ihn wirklich kennenlernt, mit einigen Freunden zusammen heitere Lieder in «Russisch, dann (…) auf Polnisch» anstimmen.27 Und in Paris, so erzählen André Beucler und Grégoire Alexinsky, habe der für Montéhus schwärmende Lenin keine Gelegenheit verpasst, «in den Refrain des Saales einzustimmen».28

      Wie hätte dieser in Gesang und herzliches Beisammensein vernarrte Mann sich denn auch um den Genuss von häufigen Cabaret-Besuchen bringen können, zumal in einer Stadt wie Paris, wo solche in Hülle und Fülle vorhanden sind? Jean Fréville hat sich wie viele Historiker oder Geschichtsschreiber, die der Kommunistischen Partei nahestehen, Mühe gegeben, uns in seinem Lénine à Paris davon zu überzeugen, dass Wladimir Iljitsch die literarische und künstlerische Boheme des