Miló. Alberto Nessi

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Название Miló
Автор произведения Alberto Nessi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550402



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die Nachrichten über Streiks in den Fabriken von Mailand und Turin allmählich auch das Tal, und es sind auch ein paar rote Fahnen aufgetaucht. Die faschistischen Schlägertrupps drohen mit Schlagstöcken und Pistolen, aber die Arbeiter reagieren, indem sie Bolzen werfen.

      In der Stadt spielen die «Schwachköpfe» dem Regime lustige Streiche: Dem römischen Kaiser, der auf die Gipfel schaut, wird eines Nachts eine Kette aus steinharten Broten um den Hals gehängt, zusammen mit einem Schild, auf dem steht: Augustus, kannst du mit deinem Bronzemagen dieses Brot verdauen? An manchen Häusern tauchen Sprüche auf wie: Brot und Pasta, mit Duce ist jetzt basta. Und in der Fabrik organisieren sie kleine Sabotageakte der Kriegsproduktion: langsam arbeiten, Material verschwenden …

      Am 25. Juli, einem Sonntag mit leuchtenden Wolken über den Höhen, kann der piemontesische Schuster in der Via Croix de Ville endlich verkünden:

      «Er ist gestürzt! Er ist gestürzt!» Es ist, als setzte ein plötzlicher Rausch die Luft in Brand, ein unruhiges Glücksgefühl: Das obszöne Maul der römischen Wölfin, die von der Säule gegenüber dem faschistischen Parteibüro alles dominiert, muss dem federnden Schritt des Fuchses weichen, der die Freiheit schnuppert. Anmut und Schlauheit statt Grausamkeit.

      Miló beteiligt sich an dem Trubel auf den Straßen der Stadt, er reißt die Abhörwanzen der Faschisten herunter, die Plakate, die «Glauben-Gehorchen-Kämpfen» predigen. Noch einmal wird er verhaftet, auf die Polizei und ins Gefängnis gebracht. Nur kurz allerdings: Die Tage folgen aufeinander, aber sie verändern sich.

      5

      Nicht alle wissen, wo das Clavalité-Tal liegt. Das Wort lässt an einen Knüppel denken, mit dem man der faschistischen Republik den Kopf einschlagen kann, an ein Tal, das man durchqueren kann, an die berühmte égalité, von der in den Geschichtsbüchern die Rede ist. Es vermittelt ein Gefühl von Öffnung, von Aufatmen, sogar von Adel; man könnte meinen, Monsieur de Clavalité mit dem Falken auf der Schulter auf die Burg von Fénis reiten zu sehen. Lauscht man der Melodie des Wortes, kann man an den Wind denken, der weit durch die Pinien, Lärchen und Flaumeichen braust, an die hungrigen Füchse, die nachts durch die Niederungen streichen. Jetzt jedoch gibt es keinen Monsieur, keine Fantasien: Und die Füchse sind die Rebellen, die hier ihre Höhle gebaut haben, die jeden Tag Waffen, Esskastanien, Reis und Tabak herbeischaffen und dafür sorgen müssen, ihre Haut zu retten. In dieser Senke, die in Friedenszeiten einer sanft gewellten Lichtung voll guter Kräuter gleicht, wohnt nun die Angst.

      An diesem Abend eilen Milós Gedanken unter dem Wintermond dahin: Wird Sterben wirklich sein, als erwachte man aus tiefem Schlaf? Steif vor Kälte kehrt er von einem seiner Erkundungsgänge im Tal zurück, und plötzlich fällt ihm dieser Kinderreim ein, das Jahr im Sprichwort: «Ein Baum hat zwölf Äste, jeder Ast hat vier Nester, jedes Nest hat sieben Junge, jeden Tag fliegt eines fort und das nächste kommt.» Den sagte ihm seine Großmutter in Fénis immer vor, wenn er als Kind in den Ferien aus Vevey zu ihr kam mit Mama Joséphine, die jetzt dort in der Schweiz bestimmt an ihren Sohn denkt, während er am Rand des Abgrunds geht.

      Jeden Tag fliegt eines fort und das nächste kommt: Wie viele Tage mögen vergangen sein, seit sie sich in der Wohnung in Aosta versammelt haben? Es war am Abend des ­­8. September, Badoglio hatte den Waffenstillstand mit den Alliierten verkündet. Doch in den Zeitungen wurde die Meldung mit einem Trauerrand veröffentlicht. Was war da los? Der berühmte Badoglio, der Herzog von Addis Abeba, hatte gesagt: «Der Krieg geht weiter.»

      Miló dachte: «Wenn der Krieg weitergeht, geht auch der Faschismus weiter.» Und er hatte beschlossen, jene Versammlung in der Wohnung in der Via Croix de Ville zu organisieren. Binel nahm teil, der ihm die Artikel von Gramsci gegeben hatte und am 25. Juli mit ihm zusammen verhaftet worden war; Chabloz kam, der mit Ivrea und Turin Verbindung hielt, und einige Cogne-Arbeiter waren da, die Brot und Frieden auf die Mauern der Stadt geschrieben hatten. Ida stand auf dem Balkon Schmiere, und im Erdgeschoss hörte man die Schritte einer hinkenden Frau, während an der Straßenkreuzung die faschistische Miliz vorbeimarschierte. Wie viele Tage ist das her?

      Miló erinnert sich an die Septemberabende, als sie beschlossen hatten, ins Gebirge zu gehen. Was hatte ihn zu diesem Entschluss bewegt? Ein Wind, der aus seiner Schweizer Jugend herüberwehte, von den Gerüsten, auf denen er den Ungehorsam erlernt hatte, von den erlittenen Demütigungen, dem Faustschlag der flics mitten ins Gesicht, von seiner Mutter, der Zigarrenarbeiterin, die schnell am Genfersee entlangging, von den freien Möwen, die er am Himmel über dem See hatte fliegen sehen. Es war ein Wind, der ein neues Wort unter die Menschen brachte, eine Hoffnung auf Gerechtigkeit. Nun warfen die Soldaten des königlichen Heeres die Koppeln fort und liefen davon, die Offiziere machten sich aus dem Staub, der Staat brach zusammen, und die Bourgeoisie machte sich in die Hose, der König, seine Generäle und Höflinge waren nur darauf bedacht, ihre Haut zu retten: Was sollte man tun? Was bedeutet «Waffenstillstand»? Miló und die anderen entschieden, für diese neue Hoffnung zu kämpfen.

      Miló stapft durch den Schnee des Clavalité-Tals. Aosta ist weit, und der Winter ist auf über tausend Metern ein elendes Vieh. Die Aufständischen – die Banditen, sagen die anderen – sind etwa ein Dutzend, wie die Äste des Baums in dem Kinderreim, aber die Faschisten der Republik von Salò denken, dort oben seien mehr als hundert, und wagen nicht anzugreifen.

      Um den Unterschlupf zu erreichen, hat er den Maultierpfad eingeschlagen, auf der einen Seite im Mondschein bleiche Felszacken, auf der anderen Schluchten und Abgründe. Gib gut acht, wohin du deine Füße setzt. Das Knirschen der Klettereisen begleitet die sich überschlagenden Gedanken. Miló denkt an seine Frau Ida: Sie ist als Stafette im ganzen Tal unterwegs, und eines Tages erschien sie bei einem solchen Schneesturm mit einem Paket oben in der Berghütte, dass sie selbst nicht wusste, wie sie das geschafft hatte. Sie näht Schulterriemen und Säckchen für die Handgranaten, sogar eine Nähmaschine haben sie ihr in die Hütte gebracht. Ida macht auch den Vierten beim Kartenspiel mit den Männern der Bande und hat Verbandsmaterial und Mullbinden im Schrank. Sie backt Pizza und kocht Spaghetti. Sie hat keine Angst. Sie nimmt den Zug bis Pont-Saint-Martin, dann läuft sie hinauf bis Gaby. In Ivrea geht sie auf den Markt, um Hosen und Hemden für die Bande zu kaufen. Doch nun ist sie wenigstens in Sicherheit mit Renata, ihrer kleinen Tochter, die ein Jahr nach der Hochzeit geboren wurde. Sie hat einen gefälschten Personalausweis: Ins Gebirge zu gehen war auch für sie eine Entscheidung auf Leben und Tod.

      Es ist anstrengend, durch den Schnee zu stapfen, doch heute Abend erhellt der Vollmond den Schritt. Der Mond lässt Füchse und Gedanken tanzen. Und plötzlich erscheint auf dem Weg tsamba de bouque, der in den Voll­mond­nächten über die Felder strich, bewaffnet mit einer Sense. Das ­Hinkebein. Wenn er einen Menschen traf, verfolgte er ihn, um ihn mit seiner Waffe zu töten, so erzählte die Großmutter im Stall von Fénis; aber man braucht sich nur hinter einem Baum zu verstecken, dann geht tsamba de bouque davon. Au claire de la lune je l’ai vu, à l’ombrette je l’ai perdu …

      Miló flüchtet sich in den Bauch einer Felsspalte, um ge­schützt eine Zigarette zu rauchen. Sorgsam achtet er darauf, das Flämmchen zu verbergen. Wie viele Tage sind seit dem 8. September verbrannt, wie viele Vögel aus dem Nest fortgeflogen, seit die Rebellen entschieden hatten, nein zu sagen? Die ersten wohnten in der Berghütte von tante Pélagie, dann sind sie auf neunhundert Meter hinaufgestiegen, und jetzt noch höher, auf zwölfhundert, wo sich ein weiter Himmel über das Matterhorn und den Monte Rosa spannt: gegenüber das Valtournenche, das Tal mit den Strommasten, die gesprengt werden sollen. Von dort oben überblickt der Wachposten die große Straße am Talboden.

      Miló denkt an die Bande: an den Backofen, der im Bau ist, den Generator, den sie zu konstruieren versuchen, das Holz, das auf die Axt wartet, die Auseinandersetzungen um die Gemeinschaftskasse, das Kalb, das geschlachtet werden soll, das Roggenmehl, das sie für die peilà beschlagnahmen müssen, die Unterstützung seitens der Bevölkerung, die immer mehr abnimmt. Und dieser miese Kerl aus Fénis? Man hat ihn sagen hören: «Wenn der Krieg noch zehn Monate weitergeht, brauche ich nie mehr zu arbeiten.» Und auch diesem anderen Erzfaschisten vom Schwarzmarkt muss man einen Besuch abstatten …

      Ein Schritt, noch ein Schritt. Zur Bande gehört auch Victor, der Engländer: Eines Tages hat er sich im Dorf mit