Miló. Alberto Nessi

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Название Miló
Автор произведения Alberto Nessi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550402



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aller Übel versprach?

      2

      Lausanne, Gefängnis von Bois-Mermet,

       6. Februar 1934

      Emile Lexert, unehelicher Sohn von Joséphine, ohne fes­ten Wohnsitz, ledig, Maler und Gipser, Größe 1,69, mittlere Statur, Haare und Augenbrauen schwarz, Augen braungrün, Nase geschwungen, Schnauzbart dunkelbraun, Lippen dick, Gebiss gut, nicht vollständig, fliehendes Kinn, glattrasiert, ovales Gesicht, eine gerade, senkrechte Narbe von einem Zentimeter über der rechten Augenbraue zur Nase hin, ein Muttermal auf dem linken Nasenflügel, ein Mut­termal neben dem rechten Nasenflügel … Genügt euch das?

      Es ist nicht wahr, dass ich im Zimmer von Madame Jaquenoud einen Damenmantel entwendet habe. Es war so: Toto hat mir diesen Mantel verkauft, grau mit Pelzkragen, zum Preis von zehn Franken. Seine Papiere waren nicht in Ordnung, deshalb hat er mir das Ding verkauft: Er brauchte Geld, um nach Italien zurückzukehren. Der Freund Toto hat eine Nacht in meinem Zimmer bei Madame Jaquenoud verbracht, aber ohne Madames Erlaubnis, sie hat ihn gar nicht gesehen. Ja, wahrscheinlich ist der Mantel gestohlen, wie soll man leben, wenn man nichts hat?

      Seit ich aus Genf fort bin, bin ich arbeitslos. Am 16. Januar bin ich nach Lausanne gekommen. Seitdem habe ich immer in Prilly bei Anna gewohnt. Ihr kennt Anny nicht. Lasst die Finger von ihr. Nein, ich habe mich nicht bei der Einwohnerkontrolle angemeldet und auch meinen Pass nicht hinterlegt.

      Meine Freundin ist Mädchen für alles bei einem Herrn, der in der Apotheke La Palud arbeitet. Dieser Herr hat mir erlaubt, bei ihm zu wohnen, wenn ich keine Arbeit habe.

      Ich bin aus Genf ausgewiesen worden, weil ich ohne Genehmigung gearbeitet habe. Ich möchte klarstellen, dass ich Toto den Mantel abgekauft habe, in einem Café, im Beisein meiner Freundin Anny. Ich habe den Mantel mit zwei Münzen à fünf Franken bezahlt.

      Am 17. Februar, zehn Tage nach dieser Erklärung, schreibt Miló einen Brief an Monsieur le Président. Er kann gut mit Wörtern umgehen:

      Zurzeit bezichtigt die Justiz mich und meine Verlobte eines Verbrechens, das wir nicht begangen haben und für das wir uns vor einem Gericht verantworten sollen. Ich gebe zu, dass der Schein uns unrecht gibt, doch unser Gewissen ist rein, und was mich bedrückt, ist, dass wegen eines Fehlers und einer so geringfügigen Sache das Leben von zwei Menschen, die sich über alles lieben, für immer zerstört werden kann und dass ich gegen meine Entscheidung ausgewiesen werde.

      Geringfügig, ja: ein Mantel für zehn Franken. Aber der Brief nützt nichts. Am 13. März wird er mit Anny in Lau­san­ne vorgeladen, vor den Richter, die Beisitzer, den Amtsschreiber und die Gerichtsdiener. Es erscheinen Berthe mit ihrem Hütchen, das Dienstmädchen von Madame Jaquenoud, und Jean, der Kellner des Cafés Ecusson Vaudois. Der Amtsschreiber beginnt ein Papier vorzulesen, in dem Miló der grivèlerie bezichtigt wird, das heißt, auf Kosten anderer zu essen und zu trinken. Dann wird er des Diebstahls angeklagt. Er und Anny. Doch das Gericht entscheidet, dass weitere Informationen benötigt werden, und ver­tagt die Sitzung: Sie haben nicht genügend Beweise gegen die beiden.

      Eine Woche später stehen sie erneut vor dem Richter. Diesmal ist eine andere Berthe da, die für die Heilsarmee arbeitet, die Uniformierten, die Trompete und Trommel spielen und Gott ein Loblied singen, sie wollen die Menschheit vom Teufel befreien und haben eine Fahne, auf der sang et feu steht.

      «Sie haben etwas entwendet, von dem sie wussten, dass es ihnen nicht gehört», schreiben die vom Gericht. Einen Mantel mit Pelzkragen.

      So verurteilt der Gerichtshof sie zu drei Monaten Gefängnis, zu fünf Jahren Verlust der Bürgerrechte und zur Bezahlung der Hälfte der Gerichtskosten wegen einer Sache, die sie bei einem Dieb gekauft haben. Doch der Mantel mit Pelzkragen war wirklich schön: In diesem Mantel sah Anny wie eine richtige Dame aus, nicht wie ein Mädchen ohne festen Wohnsitz. Anna, die noch keine achtzehn Jahre alt ist.

      3

      Gefängnis von Bochuz, 21. März 1934

      Miló ist nach Bochuz verlegt worden und wartet auf den Tag seiner Ausweisung aus der Schweiz. Die Polizei hat ihn als «unerwünscht» bezeichnet; er trägt das Wort in sich, als hätte man ihn angespuckt.

      An der Umfassungsmauer des Gefängnisses Bois-Mermet, das er vor wenigen Tagen verlassen hat, hatte auch Benito Mussolini kurz mitgebaut, einer der sechstausend armen Schlucker, die damals in Lausanne arbeiteten: Als Gelegenheitsmaurer in Lausanne zu Beginn des Jahrhunderts musste er manchmal sogar auf einer Bank unter dem Grand Pont übernachten. Er war nicht nur Handlanger gewesen, sondern auch Gehilfe im Weinladen und in der Metzgerei, der aus der Romagna ausgewanderte Schullehrer, der jetzt Italien beherrschte. Eines Abends in der Maison du Peuple, bei einem Streitgespräch über «Christus als Befreier der Sklaven und Vorläufer des Sozialismus», hatte Mussolini die Größe Jesu geleugnet, was hatte der denn schon Denkwürdiges vollbracht? Ein paar Dörfer missioniert und ein Dutzend unwissende Landstreicher als Jünger geworben …

      Diese Dinge hat Miló von seinen italienischen Freunden erfahren, und ab und zu denkt er daran. Jetzt in dem neuen Gefängnis wurde die Umfassungsmauer durch Stacheldraht ersetzt: eine moderne Strafanstalt in der ­Orbeebene. Ein Schandmal.

      «Er war in Bochuz» ist ein Satz, der dich für immer brandmarkt.

      In seiner Zelle eingeschlossen, wird Miló wieder zum Kind: In der Zweizimmerwohnung an der Place Orien­tale hat er sich nach den Vorhaltungen seiner Mutter hinter dem Vorhang versteckt. Er will nicht herauskommen, lauscht im Dunkeln dem Stundenschlag der großen Turm­uhr. Er hört sein Herz klopfen, der vaterlose kleine Fuchs … Er hat mit sich selbst gewettet: das Dunkel aushalten. Keinen Vater zu haben, ist besser, so kannst du ihn dir ausdenken, wie du willst. Ein Vater mit Schnauzbart, der mit mir auf dem See Boot fährt, meine Hand in seiner hält, mir beibringt, flache Steinchen über die Wellen hüpfen zu lassen …

      Eines Tages trottet er nach der Schule mit seinem Klassenkameraden dahin. Am Seeufer bleiben sie nachdenklich stehen:

      «Du hast überhaupt keinen Papa», sagt der Kamerad.

      «Oh doch. Mein Papa ist Handelsvertreter. Er reist her­um und verkauft Sachen. Er ist reicher als deiner, mein Papa.»

      «Das ist nicht wahr. Ich hab ihn noch nie gesehen. Wo wohnt er denn?»

      «In Frankreich. In Paris.»

      «Das ist nicht wahr. Du hast keinen Papa.»

      «Und du weißt nicht mal, wo Paris liegt …»

      Damit stößt Miló den Kameraden ins Wasser, damit er den Karpfen und Hechten des Genfersees Gesellschaft leis­tet.

      In der Zelle in Bochuz fallen ihm die Dinge aus der Kindheit ein: Sie kommen und gehen wie die Wellen der Brandung. Nun bringen die Wellen das Buch mit dem blauen Umschlag aus der Grundschule: die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut, das Kamel, die Wüste, der Turmbau zu Babel, die Landkarten in Grün, Ocker und Blau, das Blau des Meeres. Wie gern würde er einmal im Meer schwimmen! Was waren das bloß für Geschichten, die sie in der Schule lasen? Der Steinklopfer beklagt sich über die Anstrengung und will aufhören zu arbeiten, aber der Ochse hält ihm eine Predigt: Des Menschen Schicksal ist es zu arbeiten, zu leiden und auf den erlösenden Tod zu warten, und die Reichen werden den Elenden die Brosamen von ihrem Tische geben …

      Nun bringen die Wellen seine Mutter. Sie ist aus der Fabrik zurückgekehrt, Miló geht pfeifend Brot holen, und es gefällt ihm, hinter dem Mann mit dem Stab herzugehen, der auf der Straße die Gaslampen anzündet. Dann erscheinen in der Brandung die kleinen Dinge des Alltags, die großen Schuhe, mit Stroh gepolstert, um die Füße warmzuhalten, die Frau, die ihm fürs Einkaufen zwei Franken gibt, das Räuber-und-Gendarm-Spielen auf der Gasse. Die Grande Place, der Herbstmarkt mit Rindern, Schweinen und Ziegen, Schießbuden, Karussellen, Marroniverkäufern zwischen den Säulen der Markthalle La Grenette, dem Duft nach gebrannten Mandeln und Lebkuchenherzen … Die Geschichten des Lehrers: Napoleon mit dem goldbetressten Zweispitz auf dem Kopf und dem Säbel an der Seite lässt die Männer auf dem Platz Revue passieren,