Название | Am Äquator |
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Автор произведения | Isolde Schaad |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919671 |
Der Restaurator legt die Handfläche über das linke Auge und schickt das rechte wie einen fotografischen Sucher über die Leinwand, in Slow Motion schwindet jede theoretische Überhöhung, so kommt, dass der Symbolismus, der diese Epoche (der Secession, an der Hodler teilnimmt) verbrämte, hier nichts mehr zu suchen hat. Hier tut sich eine Brache auf, sie gähnt ihn an, sie irritiert, da ausgerechnet im Umfeld des Mädchens, warum. Enthält sie vielleicht den archimedischen Punkt, an dem der späte Hodler entspringt, über das Nichts springt, den Abgrund, der ihm der Alltag zuweilen sein mag, hinauf zu den Alpen und ihrer kantigen, hochgradigen Präsenz. Ihre Majestät, die Hodler’schen Alpen, da gibts dann nix mehr zu deuteln, da sind dann alle vereint auf dem Gipfel der interpretatorischen Eindeutigkeit.
Die Wahrnehmung steckt im Auge, nicht im Hirn, nur bring das mal einem Experten bei. Die Wahrnehmung des Restaurators hat kein Urteil, je länger er an einem Gemälde arbeitet, umso weniger. Für den Restaurator hat ein Meisterwerk sakrosankt zu sein. Der sieht eine Fläche voll Können vor sich, ein Können, das auch ein Wissen ist und furios über die Fläche fegt, da und dort von Diagonalen gebrochen, welche mit Rötel liniert sind; sieht aus wie Ölkreide, ist aber Hodlers virtuoser Pinselstrich, der wechselt zu Magenta, schlägt weiter rechts ein als violetter Blitz in die Gewandung der schwarzen Schattengestalten. Als wollte er die weghaben, bestimmt wollte er ihre Absichten durchkreuzen, damit sie dem Mädchen nichts antun. Damit sie sich nicht plötzlich wenden, um ihr das Grinsen des Totentanzes einzupeitschen.
Der Restaurator bemerkt, dass er auf der Holzbrücke überm Sinnieren in die Knie gegangen ist. Er seufzt, ist ja nicht gerade die für ihn typische Position. Weiter, er muss weitermachen. Eigentlich würde er das ganze Bild so belassen. Der Schmutz, der sich auf dem Bild niederliess, hat wie ein schützender Firnis gewirkt. Hat Schatten gebildet auf der gelblichen Hauttönung des Mädchenaktes, der ihm jetzt kräftiger erscheint als früher. Er hielt sie für magersüchtig, damals, aus Distanz. Anorektisch ist die, hat er gemurmelt, als sie wie auf dem Leichenwagen ankam. Als das monumentale Gemälde, geschoben von vier Spediteuren, dirigiert vom verantwortlichen Museumskurator, in der Werkstatt anrollte und für ihn vertäut wurde. Festumzug für eine Nackte und vier bis fünf Racheengel, hat er bei sich gedacht, weil er das Bild nicht mochte, es erinnerte ihn zu sehr an die Uni und alle verpatzten Jahre, die folgten, das ist ihm nicht geheuer, doch ja, wer weiss, vielleicht ist die Arbeit an der Jugend eine Verjüngungskur? – Die hat Power, die kann sich wehren –, rief die Assistentin begeistert.
Er legt den Pinsel nieder und rappelt sich auf. Erst halb zwölf Uhr. Was ist bloss mit ihm los. Er streckt sich und klettert vom Holzwagen hinab. – Ich bin dann mal weg–, sagt er etwas zu laut, zu burschikos. Und die beiden Frauen, die an den Staffeleien zugange sind, die Assistentin und die Praktikantin, schauen verwundert auf. – Ist es schon Mittagszeit? – Er antwortet nicht, er macht sich davon. Diese Unruhe in ihm. Er trollt sich in den Park, der dem Kunsthaus gegenüberliegt, er geht den Kiesweg hinauf und hinab. Das Gelände ist jetzt schon voller Baubaracken, da bald die Kunsthauserweiterung beginnt. Ob der Baulärm bis zu ihnen, an die Rückseite des Altbaus dringt? Es ist ihm, als ob seine Sinne unter einem Brennglas gleissen, als ob darin tausend Sonnen bersten und gegen ihn ausholen. Dabei liegt der Park im Schatten. Er setzt sich auf eine mit Kisten vollgestapelte Bank, sie lassen eben noch ein Eck frei für ihn.
Wahrscheinlich rührt der Schwächeanfall von seiner Hast am Morgen, da er sich nie richtig zum Frühstück hinsetzt. Er nimmt morgens einen Cappuccino an der Cafeteria, dazu eine Brioche, die schmeckt, als sei das Gebäck vorgestern in Zellophan von einer Autobahnraststätte importiert worden. Egal, es geht lediglich darum, den Blutzuckerspiegel zu stabilisieren. Zurück in die Werkstatt, in das gedämpfte Licht, dann ein Blick auf die Staffeleien im Hintergrund, die Kleinmeister des achtzehnten Jahrhunderts sind stets problemlos gewesen, das Brot vieler Jahre, die er hinter sich hat. Er steigt erneut auf die Holzbrücke, prüft die unter ihm lagernde, vom Holzrahmen gelöste Unergründlichkeit. Mehr Abstand zur Figur hat er gewollt, sie neu sehen, was also sieht er jetzt? Eine Fremde ist eingezogen auf dem einst monumentalen Gemälde, das sich nun wie Marschland mit Untiefen ausbreitet. Erst hat er eine Theaterkulisse vor sich gesehen und diese Sicht wieder verworfen.
Hodler hat die Leinwand nicht grundiert. Ein Vollblutmaler schert sich wenig um die technischen Aspekte, ausserdem hat man zu seiner Zeit noch wenig von der Zukunft von Öl auf Leinwand gewusst. Dass sie brüchig wird und krakeliert, sogar verpudern kann, heikle Partien, die er mit hauchdünnem Japanpapier ausbessern wird. Dass die Leinwand sich zu Schüsseln aufwirft, die man mit Störleim bearbeiten muss, mit einer hauchdünnen Folie anpressen, um sie flachzulegen, Teufel auch, die Anzüglichkeit ist nicht mehr wegzukriegen, ist das die Rache des Bildes an seinem ehemaligen Desinteresse? Die Burschenschaft, in der er war, hat vor nichts zurückgeschreckt, was ausserhalb der Vorlesungen Programm war, das waren quickmuntere Animierdamen, keine dürren Frauenakte. Er war auf der Hut gewesen, zu feige, denkt er jetzt. Er war der Statist in der Bande. Sein Leben lang ist er Statist.
Er tunkt den Pinsel in den Klebstoff, der aus der Schwimmblase des Störs gewonnen wird. Hodler hat alles aus der Natur geschöpft, die Natur heilige die menschliche Figur. Hat er in seinen Vorträgen vertreten, er war ja in späten Jahren noch Akademielehrer gewesen, was man sich schwer vorstellen kann, dieser Vollblutkünstler hinter dem Katheder. Ja, die Kunst fordert ihren Tribut.
Was will das Bild von ihm? Wer oder was ist die Wahrheit, an die Hodler gedacht hat? Der Stör ist vermutlich das letzte Opfer jener Erhabenheit eines Meisters, die er als Restaurator sicherzustellen hat. Mitte des letzten Jahrhunderts verschwindet sie, und mit ihr die Aura der Kunst. Dann tritt der Starkünstler auf die Bühne und ersetzt die Erhabenheit durch Selbstdarstellung, durch schrankenlosen Exhibitionismus. Ein Geschwurbel, Mann, dieser Jeff Koons, sagt der ahnungslose Neue, er ist Kurator für die Altäre des Mittelalters, was ihm wohl kaum in die Wiege gelegt worden ist, so wie der daherkommt, wie er redet. Woher das alles stammt, möchte er wissen. Auf Wikipedia betrachten sie zusammen Duchamps Pissoir und den Akt, eine Treppe herabsteigend. Dann zeigt er dem Novizen einen Youtube-Film über die ehemalige Wahrhol-Factory. Das Fazit ist kurz. – Mit Marcel und Andy fängt die Homestory der Kunstgeschichte an –, kommentiert der Neuling. Der Restaurator sagt nichts.
Hodler hat alles andere als eine Homestory durchgemacht, auf einem lodernden Grat ist er gegangen, alles in ihm war gestaltende Energie. Eine Sippe voller Todesfälle, ein Leben voller Tode hat er verarbeiten müssen, daraus unerhörte Kraft der Formgebung geschöpft, was manchmal übermenschlich anmutet. Hodler, obschon kunsthistorisch gesehen ein Moderner, Hodler ist alte Schule, was die künstlerische Integrität anbelangt. Und dabei die Ausdauer in der Wucht, als hätte er mit den Fäusten gemalt. Dabei die darstellerische Kompromisslosigkeit in der Nähe zum Liebsten, was er hat. Umpflügen das Klischee seiner Epoche und ohne Tränen bis ins Sterben hinein. Das ist grosse Klasse, und die möchte er, Hanskonrad Arter, genannt HK, sichtbar machen. Die Aura muss bleiben, wie schafft er das. Eine andere, eine neue Wahrheit hervorkratzen, was für eine? Probeweise presst er mit Folie den sparsam getupften Leim auf die defekte Stelle. Eine Wüste, das Bild, technisch gesehen.
Eine schlaflose Nacht. Das Ticken des Weckers hat ihn ins Bad getrieben, präzis um drei Uhr siebzehn hat er zwei Pillen eingeworfen, der Ausdruck stammt aus der Zeit, da der Joint und LSD angesagt waren. (Er ist nicht von gestern, wie die Museumskollegen annehmen.) Er geht auf Zehenspitzen, um die Frau nicht zu wecken. Das Päckchen steckt noch im Badzimmerschrank, wahrscheinlich längst abgelaufen, die Filmtabletten kaum gebraucht, doch der Tranquilizer, den ihm die Therapeutin einst zugesteckt hat, wirkt sofort.
In der Frühe hat er keinen Hangover, was ihn überrascht. Ein frischer Morgen, ohne Kopfschmerzen, wider Erwarten. Das Kunsthaus liegt wie neu vor ihm. Und zum ersten Mal wirft er einen Blick auf das restaurierte Höllentor von Rodin. Nicht dieses Thema jetzt, er geht stracks durch das Foyer,