Название | Am Äquator |
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Автор произведения | Isolde Schaad |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919671 |
Dabei hätte ich, wenn er nicht. Er. Er. Er. Nach der verpatzten Nacht, in der ich kein Auge schloss und keine Lippe öffnete, da der Bettgenosse räsonnierte, randalierte wie Samuel Pepys an den finstersten Tagen seines Tagebuchs, gönnte ich uns beiden eine Auszeit. Dann war alles wieder wie ehedem. Er und ich, wir zwei.
ERHÖHTE TEMPERATUR
Das Bild kannte er seit seiner Studienzeit. Es war am Ende des Ersten Weltkriegs als Leihgabe ins Kunsthaus gekommen und wurde von seinem Semester mit Verachtung gestraft, die Sechzigerjahre in Z. hatten nichts übrig für das Erbe der Schweizer Kunst: Was kann von Erben, die Rütschi heissen, schon kommen. Obschon er nicht zu den Scharfmachern zählte, ging auch ihn dieses Gemälde nichts an, Hodler war eine vaterländische Pflichtübung, die man im kunsthistorischen Seminar geflissentlich überging. Nur die Braven, die Angepassten beeilten sich, die Figur und ihre schattenhafte Entourage zu skizzieren, als Gedächtnisstütze sollte das dienen, da es noch keine Digitalfotografie gab, die klick machte und das Sujet erhaschte wie im Schmetterlingsnetz. Das Bild war zu grandios komponiert: im Vordergrund der Mädchenakt, die Lichtgestalt, umgeben von den rückwärts rückenden Vermummten. Aber das Wesen, das sich als Die Wahrheit ausgab, war zu ätherisch, um einen Erstsemestrigen mit Flaum am Kinn zu fesseln, denn der war mehr an handfesten Titten interessiert.
Er erinnert sich: – Ein Höhepunkt des Symbolismus! – Der Oberassistent hüstelte im Abglanz des Gemäldes, das er im Massstab 1 : 2 vergeblich zu projizieren versuchte, es fuhr ihm hörbar in den Rachen. Damit machte er sich vollends zu jener Witzfigur, die lustlose Studenten brauchen, um sich über die Runden zu bringen. Lustlose Studenten sind grausam und wissen es nicht. Ihre Grausamkeit ist ja nichts anderes als eine Spielart unter geschlechtsreifen Rangen, und die hätte man besser im Urwald ausgesetzt, um das Menschenbild zu studieren. Stattdessen hatte man im Kunsthaus anzutreten, dem Hort des Edlen, Guten und so weiter.
Dieser da, der Lotterpuppe, wie sie der Studienfreund nannte, der bald darauf zum Bankfach überlief, stachen die Rippen aus dem Brustkorb, und auf dem Schambein, das nur knapp mit Haut überzogen war, befand sich kein einziges Härchen. Geschlechts- und geheimnislos war die und alles andere als eine erotische Attraktion für einen Jüngling, der abends mit der Lambretta ins Kino knattert und sich ein Busenwunder auf den Rücksitz wünscht. Nouvelle Vague mit der BB war angesagt, von der scharfe Fotos kursierten, die man in der Innenseite der Mappe kleben hatte, sozusagen als Notproviant.
Nun ist er intim mit ihr, nun liegt er über ihr, gewissermassen in der Missionarsstellung, um sie zu restaurieren, Hodlers Wahrheit. Eine von oben delegierte Zumutung. Er fährt sich durchs Haar, knappe sechs Zentimeter Abstand verlaufen zwischen seinem Hosenbund und ihrem Genital, das er nicht Muschi nennen mag. Ein deutscher Mitstudent hatte das Wort seinerzeit eingeführt, Muschis waren Freundinnen, die fortwährend an einem herumzupften und quengelten, bis sie mit ihrem Goldjungen von der gleichnamigen Küste in Paris gewesen waren. Dann bettelten sie, bis er sie nach Rom mitnahm, worauf London, Prag und Amsterdam an die Reihe kamen. Heute gibt es die Muschitour wahrscheinlich nicht mehr, sie würde zu weit führen müssen, bestimmt bis nach Dubai, Shanghai, Hongkong und Tokio, das aber bald weg vom Pflichtprogramm wäre; nicht etwa wegen Fukushima und der Strahlungsgefahr, oh nein, Atomkraftwerke sind kein Thema für Muschis, sondern der illegale Walfang, der sie nicht ergötzt, denn Muschis haben ein Herz für aussterbende Tiere. Er selber blieb einigermassen sauber, ausgenommen, nun ja. Sein Kumpel ist ihm Lehrbeispiel genug gewesen, der hat jene Vollbusige, Mütterliche, die ihn entjungferte, dann heiraten müssen. Sie war elf Jahre älter als der werdende Vater, und die gemeinsame Zukunft kann man sich denken.
Die da ist eine andere, er lernt sie kennen, jeden Tag neu, seit Wochen und Tagen, versucht er sie zu entziffern. Ihre Vulva hat der Maler in zwei dürftigen Strichen angedeutet, und das Beckenskelett sorgfältig gerundet, der Zugang wäre also ideal für einen zartbesaiteten Bräutigam. Von einem Triumphbogen zwischen den Beinen kann allerdings kaum die Rede sein, Gott, was hat er bloss für Assoziationen, was für ein schäbiges Altherrenlatein. Der Künstler Hodler ist zwar kein Kostverächter gewesen, aber bestimmt kein Pädophiler. Das Modell kann höchstens siebzehn Jahre alt sein, doch in seiner Darstellung kommt sie wie aus alter Zeit herüber, eine Lolita, die früh altern wird.
Er ächzt. Nicht gerade bequem, diese Lage, aber anders als bäuchlings ist Hodlers Wahrheit nicht beizukommen, er liegt auf einer Filzmatte und hantiert von oben, von der verschiebbaren Brücke her, die auf den grossen Holzwagen montiert worden ist. So liegt die Leinwand unter ihm, und er arbeitet sich Millimeter um Millimeter zum Bildzentrum vor, verkörpert von diesem seltsamen Girl.
Je näher er ihr kommt, desto mehr schwindet sie, löst sich in Glanzflecken und Schadstellen auf. Abschnittweise, als Ganzheit nicht überblickbar, wird die Arbeit zu einem rein technischen Vorgang, der Bildinhalt und Bedeutung aufsaugt. Bis gestern haben ihn die Figur und ihre tatsächlich bedrohliche Situation auch nicht wirklich interessiert. Aber heute, an diesem Tag, weiss der Teufel.
Es ist, als spüre er eine Regung von ihr, wenn er zunächst mit dem Kunsthaarpinsel, der ist verlässlicher als der Marderpinsel, zum Venushügel vordringt, um dort mit dem befeuchteten Wattebäuschchen die Lasur aus Schmutz abzutupfen, der Reinigungsvorgang kommt ihm plötzlich rituell vor, als appliziere er eine sexuelle Initiation, wie frevelhaft, wo doch zwinglianische Rituale immer über der Gürtellinie stattfinden, er darf also bloss ein wenig um die Leibesöffnung herum tamponieren, die Zeremonien des Züribergs, wo er aufwuchs, sind eine religiöse Trockenübung. Er ist ihr Kustos, Hüter ihrer Reinheit, ach was, das klingt fast schon katholisch, also zu theatralisch. Die Situation verhält sich doch so, dass ihr nichts geschehen darf, nicht das Geringste darf ihr geschehen. Zu Hodlers Zeiten, da ein Modell dem Künstler schutzlos ausgeliefert war, ist ihr wahrscheinlich schon zu viel passiert.
Die Anstrengung knackt in den Knochen, wenn er sich nach eineinhalb Stunde erhebt, um sich von seiner fragwürdigen Position kurzfristig zu erholen. Ein Endfünfziger, der sich über eine Minderjährige hermacht. Kompromittierend ist das, weil es sich um eine gemalte Minderjährige handelt. Lebendig sind sie ja keineswegs wehrlos, im Gegenteil, die kämpfen jetzt mit harten Bandagen, da bist du als Mann vor keinem Schlagring, vor keiner Fingerkralle im Gothic Style sicher.
Er schiebt nun das Holzgestell, das als Brücke dient, so zurecht, dass er an der Beinpartie arbeiten kann, was für prächtige Waden sie hat. Ihre Wölbung hat der Maler mit dem Pinsel liniert, dann rötlich schraffiert, wieder laviert, damit die typisch Hodler’sche Plastizität entsteht. Hodlersche Beine sind immer gewappnet, straff und energisch. Während der Meister die Füsse und manches am Torso im Ungefähren belässt. Was dem Restaurator besser gefällt als das martialische Pathos, das Hodler später entwickelt, sodass in jeder muskulösen Wade eine kommende Schlacht steckt, auch die Frauenwade ist dann ein Marignano am Vortag, wenn der Sieg noch gewiss ist. Das bleiche Mädchen erhebt die Hände, für heute genug, scheint es zu sagen, für ihre gute Durchblutung wird er morgen sorgen.
Eigentlich braucht der Unterleib keine Retusche, beschliesst er am nächsten Tag. Seine Standfestigkeit erträgt das wankende Gelände, ein Hochmoor, aus dem sich der mit brackigem Grün bedeckte Felsen abzeichnet, da sind ein paar schüchterne Blümchen, sie verheissen keinen Frühling.
Der Beauftragte des Fachkollegiums nennt das berühmte Bild aus dem Jahre 1902, von welchem Hodler zwei Fassungen herstellte, die Apotheose vor dem Untergang. Er selber hält den Vorgesetzten für einen Schwärmer, dabei begriffsversessen, als ob man diesem Maler mit Theorie beikommen könnte. Das