Название | Am Äquator |
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Автор произведения | Isolde Schaad |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919671 |
Isolde Schaad, geboren 1944 in Schaffhausen, lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Zürich. Zahlreiche Studienaufenthalte in Ostafrika, Nahost, Indien. Gastautorin einer amerikanischen Universität. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Limmat Verlag sind zuletzt erschienen: Die Romane «Keiner wars» sowie «Robinson und Julia» und der Essayband «Vom Einen. Literatur und Geschlecht. Elf Porträts aus der Gefahrenzone».
ISOLDE SCHAAD
AM ÄQUATOR
DIE AUSWEITUNG DER GÜRTELLINIEIN UNERFORSCHTE GEBIETE
Erzählungen
Inhalt
So nah und gedankenlos nah
waren wir nie dem nackten Geschehen …
Botho Strauss
Vorneweg
Der Äquator ist ein Faszinosum, das man nicht sieht. Das ist fatal, denn er ist der Leibesumfang der Erde, und man wundert sich, dass unser Planet nicht längst geplatzt ist, wenn siebeneinhalb Milliarden auf ihm herumkraxeln, in dichter Tuchfühlung der Ballungszonen. Die Aussicht auf den Gesamtkollaps besteht nicht nur durch die rasante Zunahme der Erdbevölkerung selber, sondern durch die Ausweitung jeder einzelnen Gürtellinie von Stockholm bis Kapstadt.
Der Äquator ist unsichtbar, weil wir ihn nicht sehen wollen. Die Zustände, die in seinem Umfeld herrschen, haben wir ins innere Verlies gesperrt. Wir halten die vor Hunger geblähten Bäuche in Afrika, Asien und Lateinamerika für eine zwar traurige, aber bereits triviale Wahrheit, für die Jean Ziegler zuständig ist; seinem Job können wir nur ein Nicken beifügen, so weit ist unser Zynismus inzwischen gediehen. Wir widmen uns lieber unserm höchstpersönlichen Äquator, der steht uns nahe, der ist im Unterschied zur planetarischen Gürtellinie täglich sichtbar, allzu offensichtlich ist er, sodass wir seiner Erscheinung je nach Epoche und Zeitgeist Namen und Rang verleihen, im 19. Jahrhundert hiess er Embonpoint und war ein Statussymbol des betuchten Bürgers, Mitte des 20. Jahrhunderts nannte man ihn schon abschätzig Pirelli(-pneu), proletarisch Blunze, Ranzen, Wampe usw. Nun ist der wachsende Wanst ein Thema der Welternährungskonferenz. Weil er keine Zierde des Wohlstands mehr ist, sondern, besonders bei Jugendlichen, ein Armuts- und Entfremdungssymptom.
Dass der Planet aus allen Nähten platzt, oben vor Überfluss, unten vor Mangel, Manko, Marasmus, haben wir als globale Norm abgehakt. Nicht einmal eine Folterstatistik kann uns noch aus der Fassung bringen; lesen wir von den Greueln, die die Unverhältnismässigkeit der Welt unterwegs anrichtet, im Verlauf der unaufhörlich flutenden, nicht abreissenden Migrationsströme von Süden nach Norden, sind wir einen Moment lang empört, um uns dann erneut dem Kreuzworträtsel oder dem Sudoku zuzuwenden. Von Ethik reden nur noch die einschlägigen Kommissionen, während die Pfarrer ihre bleichen Hände zum Gebet über der gewölbten Soutane falten, wo sich so manches verbirgt – das Fehlbare des Menschen, das Menschliche eben.
Wir sind unsere eigene Nabelschau geworden, die sogenannte Selbstoptimierung ist schon fast Pflicht, die Fitnesswerbung und Gesundheitsindustrie verrichten das ihre, während die Chirurgie den letzten Eingriff plant. Und alle drei tun sich unermüdlich an uns gütlich.
Neuerdings sagt die neurophysiologische Forschung: Unsere Gürtellinie liegt näher bei Grosshirn, Cortex und Hippocampus, als uns lieb ist, sie ist meistens der Entscheidungsträger, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Nicht nur bäuchlings, als robbender Säugling, sondern auch im aufrechten Gang sind wir – das ist wissenschaftlich mittlerweile erwiesen – dem Bauch mehr verpflichtet, als wir bisher angenommen haben; die ratio schmiegt sich dicht an die emotio, wenn sie entscheidet. Im Bauch spielt sich unser Wünschen, Wagen und Zagen ab und fügt, je älter wir werden, zum Wollen das Wägen hinzu. Den Befehl erhält er zwar aus dem limbischen System in der hinteren Schädelschlucht, die Affekthandlung aber übt er selber aus. Was wäre daraus zu schliessen?
Es ist der Bauch, der unsere Geschichte erzählt, er ist der zu- und abnehmende Mond der Agenda. Die Bauchsteuerung ist das GPS, und das Ergebnis lagert sich im Laufe der Jahre an uns ab. Wird zu Lagerfett, und da fragt sich schon, ob das zu etwas gut sei. Bedenken wir, dass eine gewisse Polsterung die notwendige Distanz zwischen uns und den Mitmenschen schafft, den unsere Raubtiernatur sonst verschlingen würde.
Könnte es sein, dass das Fett, das wir loswerden wollen, erst recht und eigentlich unserem Selbstschutz dient? Damit wir nicht jeden Tag auf jeden und jede losgehen? Vielleicht handelt es sich bei dieser satten Dichtung unseres Privatäquators um eine höhere Massnahme zur Erhaltung des Weltfriedens? Bestimmt ist sie die softere, die angenehmere und noch dazu günstigere Variante einer leiblichen Panzerung, verglichen mit dem groben Geschütz, das die Supermächte jeweils auffahren lassen, wenns anderswo brennt. Der Wulst um uns, der Speck in uns haben also eine Existenzberechtigung, sogar eine strategische Funktion. Machen wir also Frieden mit ihnen, und bedenken wir, dass der Bauch unser ständigster Begleiter ist, dabei treu wie unser Kopf niemals war.
Mein Bauch gehört mir: Das scheint ein stichhaltiges Argument zu sein, der Slogan, der die Abtreibungskampagne der Siebzigerjahre antrieb, hat sich längst selbständig gemacht. Man kann diese Optik für obszön halten, man kann Argumente dagegen auffahren, wenn alle vier Minuten ein Kind auf dieser Welt an Hunger stirbt. Darauf lässt sich in verschiedenster Weise ant worten. Jede Antwort hat ihre Berechtigung. Sie ist dann immer eine Geschichte für sich.
Sieben Erzählungen führen unsern Bauch aus, diese empfindsame, unergründliche Gegend. Von Norden nach Süden, mit einem Abstecher nach Westen, und man wird feststellen, dass dieser Bauch, je näher er dem geografischen Äquator kommt, und besonders, wenn er ihn überschritten hat, aufgeregt, fast ekstatisch nach Bedeutung heischt. Denn das sei Weltgeschichte, was dort unten abgeht. Will er sich wichtig machen? Mal sehen, wie er sich liest, wenn er in die Sätze kommt.
HEFTIGE WINDE
Er und ich – eine alte Geschichte, aber wer hätte die nicht? Auf gut Deutsch hat jede und jeder eine, sagte man mir, und eine wie ich sowieso. Dabei hatten wir für eine Geschichte gar keine Zeit, da wir in einem drastischen Migrationsschub aus Nowosibirsk in den lauwarmen Westen gespült worden waren, hier kamen wir mit klammen Fingern erst recht auf die Welt. Wohnungssuche und so, das hat gedauert, seither leben wir unzertrennlich im Grünen. Da ist pure Gegenwart, durch nichts bewegt ausser dem Staubsauger der Nachbarn. Das, was wir leben, sitzt tief: eine fatale Symbiose, die nur der Tod scheiden kann. Das letzte Pfand der Ostkirche, das uns bleibt, ausgenommen die kleine Ikone, die über meinem Nachttischchen hängt.
Immerhin verfügt unser solides Verhängnis über eine Sonnenterrasse, das muss eingeräumt werden. An milden Frühlingstagen schweigen wir gemeinsam, und es kommt vor, dass ich meine Hände österlich auf ihm falte, das mag er, gurrt oder gluckst zufrieden, und ich atme auf, weil wir unter uns sind. In Gesellschaft bringt er mich manchmal ganz schön ins Schwitzen.
Er