Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive. Nicola König

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Название Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive
Автор произведения Nicola König
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823302681



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ist und damit ein Rückgriff nicht nur legitim, sondern vor allem auch sinnvoll ist.23 Damit aber erhielten die Schüler explizit eine Unterweisung im Schreiben, das nicht nur das Gliedern der argumentativen Struktur, sondern auch das Auffinden und Verwenden von Hintergrundmaterialien beinhaltete. Dieser Herausforderung muss sich eine Didaktik des materialgestützten Schreibens aktuell stellen.

      Das Anfertigen von Realien beruhte demnach auf dem Prinzip der Nachahmung ebenso wie auf der Erweiterung des eigenen Horizontes. Vor allem der erste Punkt erwies sich im Lauf der Geschichte der Rhetorik als schwierig, da mit zunehmender Bedeutung und Verwendung der Realien die floskelhafte Übernahme von Ideen und Wendungen zu- und die Eigenständigkeit der Gedanken abnahm. Immer häufiger wurden die Ausführungen des Redners von Zitaten unterbrochen und es entstanden Verweiszusammenhänge, die es erschwerten, der Rede zu folgen. Der Wert des vor allem eigenständigen Anlegens von Realien aber lag unbestritten darin, den jüngeren und unerfahreneren Redeschreibern durch die Zusammenstellung von Materialien aus den verschiedensten Bereichen Inspiration zu ermöglichen und Ideen zur Horizonterweiterung anzubieten. Weiterhin erfuhren die eigenen Gedanken durch den Rückgriff auf Realien eine Kontextualisierung.

      Im Hinblick auf die Einführung des materialgestützten Schreibens sind mehre Aspekte der Rhetorik Weises von Interesse: Das Erstellen von Realien und der Umgang mit diesen nimmt, ebenso wie das Einüben der Chrienform, das Vermitteln der Schreib- und Vortragskompetenz in den Blick: Aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen der Realien – hier lässt sich durchaus von Polytextualität sprechen – wurden Ideen, aber auch Zitate für die eigene Rede verwendet. Diese verfolgt zwar – im Sinne einer Adressierung – eine kommunikative Funktion, fokussierte aber primär auf den Inhalt: die Sachgemäßheit. Weise bemühte sich – im Sinne Helmers’ – um eine Ausgewogenheit der drei Aspekte beim Gestalten einer Rede. Der Verweis auf die unterschiedlichen Übungsformen legt nahe, dass das Verfassen und Halten von Reden im Unterricht selbst eine zentrale Rolle spielte. Betrachtet man den Umgang der Schüler im 18. Jahrhundert mit den Realien, dann mutet ihre Eigenverantwortlichkeit im Vergleich mit der der Schüler:innen des 21. Jahrhunderts groß an. Dies betrifft besonders die aktuell geführte Diskussion um den Grad der Verbindlichkeit, welche und wie viele der zur Verfügung gestellten Materialen genutzt werden sollen.24

      Der Beginn eines Deutschunterrichts

      Trotz aller Innovationen, die Weises Ansätze, die deutsche Sprache zu vermitteln, enthielten, blieben diese doch weiterhin der Rhetorik verpflichtet. Und so war das Lateinische noch im 18. Jahrhundert für den Schulbetrieb und seine Organisation maßgeblich. Das betraf die Auswahl der Lektüren und der Lehrbücher ebenso wie die Durchführung von Examina. Erst mit Hiecke wurde ein dezidierter Deutschunterricht eingeführt, der sich intensiv auch mit der Vermittlung der Literatur beschäftigte. Boueke1 betont, dass man von einem Literaturunterricht, der das Verständnis literarischer Texte in den Vordergrund stellt, erst seit dem 19. Jahrhundert sprechen kann. Davor stand eine grammatische, stilistische und rhetorische Bildung im Zentrum. In den kommenden Jahrhunderten bewegte sich der Umgang mit Literatur im Spannungsfeld einer überwiegend analytischen Auseinandersetzung – als Wegbereiter lässt hier Hiecke anführen – und eines emotionalen Zugangs, bei dem Literatur Auslöser sinnlicher und emotionaler Erlebnisse ist. Konsens aber scheint trotz großer didaktischer und methodischer Unterschiede darin zu bestehen, dass der literarische Text als Gegenstand verstanden wird, der dazu geeignet ist, den Menschen zu bilden. Vor allem für die Entwicklung eines gymnasialen Deutschunterrichts und der Betonung eines interpretativen Zugangs zur Literatur hatte Hiecke einen entscheidenden Einfluss: In seiner 1842 erschienenen Abhandlung über den Deutschunterricht betont er die Bedeutung der deutschen Lektüre, die sich nicht nur durch Gehalt auszeichnen müsse, sondern auch die Basis sämtlicher unterrichtlicher Tätigkeit bilde, „für eigne inhalts- und lebensvolle Productionen, für einen interessanten und fördernden grammatischen Unterricht, und für alle sonstige theoretische und historische Belehrung, wie Metrik, Poetik und Literaturgeschichte.“2

      Wenn Hiecke die Funktionen der Bildung und in diesem Zusammenhang die Rolle des Deutschunterrichts beschreibt, dann geht es ihm im Sinne einer Allgemeinbildung um die „praktischen Fertigkeiten des guten Lesens, des Verständnisses guter Schriftsteller, des Auffindens treffender Gedanken über angemessene Aufgaben, so wie der richtigen, fließenden und zusammenhängenden mündlichen und schriftlichen Darstellung derselben“3. Im Sinne einer Kompetenzorientierung gilt es, Fähigkeiten zu vermitteln, die jeweils an literarischen Texten oder Themen eingeübt werden sollen. Bedingte somit die Abkehr vom Lateinischen als Unterrichtssprache zunächst einen Rechtfertigungszwang, sich mit deutscher Literatur auseinandersetzen zu dürfen, so legt Hiecke hier den Grundstein und die Basis für einen integrativen Deutschunterricht, wie er heutzutage üblich ist.4

      Betrachtet man das Schreiben im Deutschunterricht, so fasst Hiecke dieses unter dem Begriff der „Productionen“ zusammen, wobei Produktion und Rezeption ineinandergreifen sollen. Für die Vermittlung des materialgestützten Schreibens ist interessant, dass Hiecke bei der Vermittlung des Schreibens auf den Begriff der Muster zurückgreift: „Denn die Verarbeitung des mannickfaltigen sich von außen herandrängenden Stoffes zu einer klaren und geordneten Gesammtanschauung ist immer nur möglich durch vorangegangene Bildung an Mustern solcher Verarbeitung.“5 Die durch Lehrer:innen vermittelten Muster helfen den Schreibenden, die ungeordneten Wahrnehmungen zusammenzufügen.6 Wenn Hiecke im Folgenden seine Gedanken zum Schreiben präzisiert, so entwirft er ein erstes Curriculum, das vom Beschreiben des „außer uns Befindlichen“7 ausgeht. Der nächste Schritt stellt die Beschreibung von Personen dar, es schließt sich die – reflexionslose – Schilderung von Erlebnissen an. Nach und nach kommen Themen hinzu, die nicht nur eine Beschreibung, sondern auch ein Nachdenken über das jeweilige Thema beinhalten. Während zu Beginn die Reflexion noch keine Rolle spielen soll, so wird durchaus der Lebensweltbezug betont, indem die „Beobachtungen dessen, was der Schüler um sich sieht“8, aufgenommen werden – beispielsweise in Form von Stadtbeschreibungen. Dieser Lebensweltbezug wird auch im Verfassen von Briefen deutlich; hier sollen nun auch Empfindungen zum Ausdruck gebracht werden. In den oberen Klassen nimmt der reflexive Anteil der Schreibaufgaben mehr und mehr zu. Damit bewegt sich das Schreiben im Spannungsfeld zwischen einem ästhetischen und einem eher kognitiv orientierten Schreiben. Entscheidend ist neben dem Lebensweltbezug ein Maß an Konkretheit in der Aufgabenstellung, das dafür sorgen soll, dass der Schreibende sich nicht in Allgemeinplätzen verliert: „Diese Themen sind aller der Art, daß sie dem Schüler nicht gestatten sich mit vagen Allgemeinheiten zu begnügen, daß sie ihn nöthigen sich concreter Bestimmtheiten der Sache zu bemächtigen.“9 Weiterhin ist Hiecke wichtig, dass der Aufsatz keine moralische Erziehungsinstanz darstellt.

      Obwohl Hiecke mehrfach auf die Bedeutung der Literatur für den Schreibprozess abhebt, gibt es doch zahlreiche Themen, die unabhängig von den Inhalten des Literaturunterrichts sind, beispielsweise das Schreiben „über die Abhängigkeit der Lebensweise von der Berufsthätigkeit“10 oder das „Poetische des Krieges“11. Verweist Hiecke auf fächerverbindende Aufgaben, dann wird deutlich, dass den Schülern für das Schreiben zwar nicht explizit Materialien zur Verfügung gestellt werden. Es wird jedoch vorausgesetzt, „daß der Schüler bei dem der Ausarbeitung vorhergehenden Suchen nach concreten Belegen auf ein Material stößt, das ein vorzüglich lebendiges Interesse einzuflößen geeignet ist.“12 Im Zusammenhang mit der Einführung der Textsorten ist es Hiecke wichtig, dass eine Reduktion vorgenommen wird. So soll nur mit wenigen Formen gearbeitet werden, diese sollen aber im Unterricht eingeübt werden. Hiecke postuliert hier demnach eine Transparenz der Anforderungen13 und eine Lehrbarkeit des Schreibens gleichermaßen, die sich auch in einer Planungsphase abbildet. Zu dieser zählt er die Stoffsuche, das Exzerpieren, das Ordnen und Anführen von Belegen. Dass es sich beim Schreiben tatsächlich um einen Prozess handelt, macht nicht nur die curriculare Darstellung der Schreibanlässe und der Themen deutlich. Ebenso fordert Hiecke dazu auf, die Schreibhefte aufzuheben und die Entwicklung des Schreibens in Bezug auf eine inhaltliche wie formale Gestaltung zu dokumentieren.14 Der Schreibprozess wird durch die Phase der Überarbeitung abgeschlossen. Auch diese konkretisiert Hiecke, indem er darauf abhebt, wie die Aufsätze graphisch zu verfassen seien, damit Änderungen eingefügt werden können.15

      Zusammenfassend ist Hiecke als Wegbereiter eines eigenständigen