Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive. Nicola König

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Название Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive
Автор произведения Nicola König
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823302681



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bis ins 18. Jahrhundert geprägt hat, das Ausbilden einer eigenen Tradition, die das 18. und gesamte 19. Jahrhundert beeinflusste, und das 20. Jahrhundert mit der Vorstellung des freien Aufsatzes. Für die inhaltliche Ausrichtung ist die Einteilung Helmers’ weiterführend, die erlaubt, die Vorläufer des materialgestützten Schreibens in den Blick zu nehmen. So unterscheidet Helmers5 den Imitationsaufsatz vom Reproduktions- und vom Produktionsaufsatz. Während der Imitationsaufsatz stark an die Form und damit an die antike Rhetorik gebunden ist, nimmt der Reproduktionsaufsatz die literarischen Stoffe in den Blick und fokussiert auf den Umgang mit diesen. Der Produktionsaufsatz hingegen hebt auf die Gestaltung und Selbstständigkeit der bis dahin überwiegend männlichen Schüler ab. Auf diese Einteilung wird am Ende dieses Kapitels noch einmal zurückgegriffen: Sie soll die Basis einer Auswertung der Einflüsse der Geschichte des deutschen Aufsatzes für das materialgestützte Schreiben darstellen. Um einschätzen zu können, warum es im Laufe der Geschichte des Aufsatzes immer wieder zur Weiterentwicklung und damit verbunden auch zur Ablehnung des Bestehenden gekommen ist, bietet es sich an, auf Helmers’ Dreieck des Gestaltens6 zurückzugreifen:

      Abb. 2:

      Helmers’ Dreieck des Gestaltens

      Diese Übersicht erlaubt, die einzelnen Aufsatzformen in Bezug auf vorgenommene Schwerpunkte einzuschätzen. Da das materialgestützte Schreiben sowohl auf die Wirksamkeit, die Sachgemäßheit und die Wahrhaftigkeit der Positionen abhebt und damit alle drei Aspekte in den Blick nimmt, soll im Folgenden untersucht werden, auf welche der jeweiligen Strömungen der Aufsatzvermittlung vorwiegend fokussiert wurde.

      Die Entwicklung eines Deutschunterrichts und damit verbunden von eigenen Aufsatzformen ist von den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren der jeweiligen Zeit maßgeblich beeinflusst. Juliane Eckard7 verweist in ihrer Einführung zu Theorien des Deutschunterrichts auf den Zusammenhang zwischen historischen und ökonomischen Bedingungen und zeigt die Einflussnahme auf Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts auf. So könne die Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache als Zeichen der Emanzipation des Bürgertums vom Feudaladel verstanden werden. Die Schwierigkeiten, das Fach Deutsch im Lehrplan zu etablieren, demonstriert die Machtansprüche der Herrschenden, einen humanistischen Bildungsanspruch und damit das Lateinische zu verteidigen und die Vermittlung des Lesens und Schreibens in den Blick zu nehmen. Galt im Mittelalter, dass der „gute Theologe (…) der gute Sprachenlehrer“8 ist, vollzog sich spätestens im 19. Jahrhundert eine Verdrängung der Theologie durch die Literaturwissenschaft. Helmers merkt kritisch an: „Nicht die Theorie des künftigen Berufs wird als Grundlage der Berufsausbildung angesehen, sondern die Theorie der Literatur.“9

      Aus diesen differierenden Ansprüchen resultiert die Deutschland noch immer prägende Dreigliederung des Schulsystems, die sich mit den Erfordernissen konfrontiert sah – und immer noch sieht –, eine breite Bildung der Gesellschaft im Sinne einer „Volksaufklärung“10 vorzunehmen, die ökonomischen Interessen der Gesellschaft zu befriedigen, eine Mittelschicht auf den Beruf vorzubereiten sowie humanistische Bildungsideale in der Tradition des Lateinunterrichts hochzuhalten. Im Zuge der sich in Europa durchsetzenden Industrialisierungen wurden zunehmend auch naturwissenschaftlich ausgebildete Arbeitskräfte benötigt, die in der Bildung von Realgymnasien mündeten. Das Wahren traditioneller Werte und Inhalte konkurrierte demnach mit den ökonomischen Interessen und den gesellschaftlichen Forderungen nach Partizipation.

      Der Einfluss der Rhetorik

      Bis weit ins 19. Jahrhundert wurde der Deutschunterricht maßgeblich von der antiken Rhetorik und der lateinischen Sprache, die noch bis ins 17. Jahrhundert die Unterrichtsorganisation und die Inhalte beeinflusst hat, geprägt. Dabei ging es nicht nur um das Halten von Reden im gesellschaftlichen oder schulischen Kontext. Gerade in der Frühen Neuzeit war die Vermittlung der Redekunst das übergeordnete Bildungsziel, an dem sich alle Fächer – „Grammatik, Syntax, Etymologie, lateinische Autorenlektüre, (…), Logik, Dialektik, Philosophie“1 – ausrichteten. Orientiert am antiken Ideal wurden die Reden zunächst übersetzt und analysierend nachvollzogen. Die rhetorischen Übungen zielten darauf ab – unabhängig davon, ob sie in lateinischer oder deutscher Sprache durchgeführt wurden –, einen guten Stil auszuprägen. Auch als im 17. Jahrhundert die deutsche Sprache Einzug in die Schulen hielt, war die Rhetorik noch inhaltsdominierend.

      Betrachtet man den antiken Unterricht, so fällt seine Dreigliedrigkeit auf: Zunächst erfolgte eine Unterweisung im Lesen und Schreiben. Den zweiten Teil machte der grammatische Unterricht aus. Hier ging es jedoch nicht nur um das richtige Sprechen und Schreiben, sondern um das Geschriebene im Allgemeinen, d.h. auch um die Auseinandersetzung mit Literatur. Der Rhetorikunterricht als dritte und dominante Säule sollte den Schüler in die Lage versetzen, selbstständig Reden zu verfassen, sich als gebildeter Bürger auszuzeichnen und damit am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Wenn sich hier vielleicht noch nicht explizit von einer beruflichen oder universitären Ausbildung sprechen lässt, so muss die Unterweisung in der Rhetorik doch als Vorbereitung für ein zukünftiges Leben betrachtet werden. Diese Vorbereitung wurde in Form von Übungsformen angeleitet, in denen die unterschiedlichsten Textsorten nebeneinander vorkamen. So spielten auch literarische Texte wie die Fabel oder narrative wie die Erzählung eine Rolle. Konnex war die Rhetorik und damit eine kommunikative Perspektivierung: So ging es um die „Widerlegung eines gegnerischen Argumentes“, die „Stützung einer eigenen Behauptung“, „Lob“, „Tadel“ oder „Vergleich“.2 Für die argumentative Auseinandersetzung spielte vor allem die Chrie eine besondere Rolle: Sie gliedert Inhalt und Form, indem konkrete Anweisungen zu befolgen sind, die die These kontextualisieren und wiedergeben, die auffordern, die eigene Meinung kurz darstellen und durch einen Gegensatz, Vergleiche, Beispiele und Zitate zu stützen.

      Neben der Chrie, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird, können zwei weitere rhetorische Übungen als Vorformen des argumentierenden Schreibens im Deutschunterricht gewertet werden, die thesis und die erfundene Rede. Die thesis behandelt im Sinne einer Erörterung eine allgemein strittige Frage und untersucht das Thema argumentativ. Während bei der Chrie die Gültigkeit der These vorausgesetzt wird und der Schreibende im Zuge seiner Mitteilung die Gültigkeit ausbreitet, ist bei der thesis diese erst herzustellen. Damit rückt diese Form des Schreibens in die Nähe des Philosophierens und hat im Gegensatz zu vielen anderen Übungsformen keine klaren Adressat:innen, an die sich der Text wendet. Ludwig stellt als letzte Übungsform die erfundene Rede dar: Der Schreibende muss sich in eine Person versetzen, die die Rede verfasst. Es liegt demnach nicht nur ein Thema, sondern auch eine konkrete Situation, ein Anlass, ein Ort und damit auch ein:e Adressat:in vor. Damit weist die erfundene Rede „kommunikative Bedingungen“3 auf, die erstaunliche Parallelen zur Situierung und zum Adressatenbezug des materialgestützten Schreibens zeigen. Demnach hebt die antike Rhetorik nicht allein auf die Ausprägung eines guten Stils ab, sondern betont den argumentativen Charakter, der auf die jeweiligen Adressat:innen und die Redesituation abzustimmen ist.

      Die Entwicklung des Deutschunterrichts aber ist nicht allein von der Übertragung der lateinischen auf eine noch zu entwickelnde deutsche Rhetorik gekennzeichnet. Dawidowski weist auf die Bedeutung „der Sozialgeschichte des Lesens und der Herausbildung des humanistischen Denkens im späten 18. und 19. Jahrhundert“4 hin. Ebenso veränderte sich im 17. und 18. Jahrhundert auch die Schülerschaft. Es galt zunehmend nicht nur Theologen, sondern auch Gelehrte auszubilden. Setzte sich aber das Deutsche als Unterrichtssprache zunehmend durch, dann standen weniger das Erlernen der – lateinischen – Sprache und die Nachahmung eines an der sprachlichen Richtigkeit orientierten Stils im Vordergrund. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten gewann an Bedeutung: „Zu jedem Akt des Redens oder Schreibens gehört die Tätigkeit des Sich-Äußerns, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Ansichten, kurz alles, was sich sozusagen im Kopf des Menschen befindet“5. Das Abheben auf Gefühle und Meinungen betont hier eindeutig eine kommunikative Funktion der Rede. Die rhetorische Produktion eines Textes hob auf Adressat:innen und die Wirkung, die die Rede auf diese haben sollte, ab und demonstriert die Entwicklung vom Imitations- zum Reproduktionsaufsatz.

      Bei der Ausbildung einer deutschen Rhetorik spielte Christian Weise