Название | El Niño de Hollywood |
---|---|
Автор произведения | Oscar Martínez |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143458 |
Mehrere Monate lang kam der Mann jeden Abend zu ihrer Hütte, um sich an dem fünfzehnjährigen Mädchen zu vergehen. Danach stellte er ein paar Flaschen Cuatro Ases auf den Tisch und betrank sich mit dem Vater. Der Vorarbeiter zwang Sandras Brüder, hinauszugehen, während er die Schwester missbrauchte, doch Miguel Ángel ließ sich nicht einfach so wegschicken. Er versteckte sich zwischen den Kaffeesträuchern und sah durch die Bretter der Hütte, wie der Chef seines Vaters in seine ältere Schwester eindrang.
Miguel Ángel ertrug das grausame Tun des Vorarbeiters nicht länger. Am Abend jenes 24. Dezember 1994, als in Atiquizaya Feststimmung herrschte, beschloss Miguel Ángel zum ersten Mal, jemanden zu töten. Er war ein Junge von elf Jahren, als er sich zwischen Kaffeesträuchern versteckte, um zwei Männer zu beobachten, die sich mit Zuckerrohrschnaps betranken.
DRITTES KAPITEL
Der Ursprung
Am 24. März 1980 um sechs Uhr abends hielt ein hochgewachsener, bärtiger junger Mann in einem zweitürigen roten Volkswagen vor der Kapelle einer Krebsklinik in Miramonte, einer Wohnsiedlung der Mittelschicht in der salvadorianischen Hauptstadt. Das Präzisionsgewehr Kaliber .22, das er bei sich hatte, sollte in El Salvador alles verändern.
Schon vor 1980 hatte es in dem Land Kämpfe gegeben. Die Guerilla-Gruppen waren in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre größer geworden, und die Ausbildung der Mitglieder fand innerhalb und außerhalb des Landes statt. Dennoch war die Koordinierung zwischen ihnen mangelhaft. Abgesehen von der FPL, der Fuerzas Populares de Liberación (Volksbefreiungsbewegung), unter dem Kommandanten Cayetano Carpio, der damals mächtigsten Guerillabewegung des Landes, setzten sich die Organisationen aus Akademikern, Dichtern, Denkern und, im Allgemeinen, begeisterten und romantischen jungen Revolutionären zusammen. Es fehlte ihnen an Entschlossenheit, und es fehlte ihnen an Jahren.
Auch die Regierung war kein homogenes Ganzes. Die mächtige Elite der Großgrundbesitzer und Industriellen sah sich von den neuen revolutionären Ideen der Massen bedroht, die alle zwei Wochen mit Streiks und Straßensperren die Produktion lahmlegten. Den Militärs vertraute sie nicht mehr, und die Außenpolitik des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter erschien ihr fast kommunistisch.
Es gab nur eine einzige Person, die sowohl den Respekt der Militärs als auch den der Plantagenbesitzer, der Industriellen und der politischen Klasse genoss: General José Alberto »Chele« Medrano. Er war ein Militär der alten Schule, ein Haudegen, rücksichtslos und brutal. Kurz, all das, was von einem salvadorianischen Mann erwartet wurde. Er war Kommandant der Nationalgarde gewesen und hatte sich sein hohes Ansehen im letzten, schmerzlichen Krieg zwischen mittelamerikanischen Staaten erworben, als er die gefürchteten Nationalgardisten bei der Invasion von Honduras im Jahre 1969 befehligte. Es hatte eine Reihe von Scharmützeln an der Grenze zwischen El Salvador und Honduras gegeben, die einhundert Stunden andauerten. Der berühmte polnische Journalist Ryszard Kapuściński bezeichnete den Konflikt als »Fußballkrieg«, weil drei Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko diesen ernsten Konflikt ausgelöst hatten. El Salvador gewann zwei der drei Spiele gegen Honduras und fuhr zum ersten Mal in seiner Geschichte zur Weltmeisterschaft. Dort verloren sie alle Spiele und erzielten kein einziges Tor.
In jenen Jahren Kommandant der salvadorianischen Nationalgarde zu sein war so ähnlich, wie Kommandant der Gestapo in Nazi-Deutschland zu sein. Die Nationalgarde wurde 1912 geschaffen, um die staatlichen Sicherheitskräfte zu bündeln, und seitdem waren die Gardisten im gesamten Staatsgebiet gefürchtet. Es war eine regelrechte Militärpolizei, und obwohl später noch die Nationalpolizei und die Angst und Schrecken verbreitende »Policía de Hacienda« gegründet wurden, war es vor allem die Nationalgarde, die die Macht des salvadorianischen Staates verkörperte. Deswegen war es auch General Chele Medrano, der, als im letzten Jahr der turbulenten Sechziger die Spannungen zwischen Honduras und El Salvador ihren Höhepunkt erreichten, die Vorbereitung der Invasion übernahm. Er reiste inkognito nach Europa und kaufte mit dem von den Plantagenbesitzern beschafften Gold Flakbatterien, moderne Sturmgewehre und Granaten, um die honduranische Armee zu bekämpfen. Es war ein sinnloser, absurder Krieg. Während der Invasion tötete die salvadorianische Armee mehr Rinder als Menschen, und die Truppe konzentrierte sich darauf, honduranische Plantagen zu zerstören. Es war der Krieg der Elenden. Wie zwei ausgezehrte Boxer, die sich gegenseitig Schmerzen zufügen wollen, aber nicht mehr die Kraft dazu haben.
Es war egal. Die Sinnlosigkeit des Krieges tat der Begeisterung keinen Abbruch, mit der General Medrano und seine Nationalgarde in San Salvador empfangen wurden, nachdem die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wie eine Mutter, die von ihren ungezogenen Kindern genervt ist, den Feindseligkeiten ein Ende gesetzt hatte. Der General führte den Triumphzug in Galauniform, Gewehr über der Schulter, auf einem schwarzen Maulesel an. Zu seinen und seiner Männer Ehren wurde die Straße, durch die sie zogen, auf den pompösen Namen getauft, den sie bis heute trägt: Bulevar de los Héroes (»Boulevard der Helden«). Es ist eine der wichtigsten Verkehrsadern der salvadorianischen Hauptstadt.
Daraufhin wurde General Chele Medrano zum starken Mann des Militärs und zum wichtigen Beschützer der Kaffeeplantagenbesitzer. Er modernisierte den Repressionsapparat und ergriff effektive Maßnahmen gegen mögliche Aufstände. Gardisten und Polizisten kannten sich bereits mit Folter aus. Sie hatten sie jahrzehntelang im Einsatz gegen die gewöhnliche Kriminalität angewendet, waren Experten darin, Banditen, Mörder und kleine Diebe unter Druck zu setzen. Fußtritte, die »Kalkkapuze« und natürlich der gefürchtete Wassereimer, der an die Hoden gehängt wurde, das waren ihre Methoden.
Doch diese Maßnahmen reichten in den Siebzigerjahren nicht mehr aus, um die aufständischen Gruppen zu bekämpfen. General Medrano wusste das, er war bei den US-amerikanischen Militärs in Asien in die Schule gegangen und hatte viel gelernt. Er war es, der den ersten richtigen militärischen Geheimdienst gründete: die Agencia Nacional de Seguridad Salvadoreña (ANSESAL). Und er schuf ein Netz von Informanten unter den Bauern, den Ohren der Armee: die Organización Democrática Nacionalista (ORDEN). An die Spitze des neu gegründeten Geheimdienstes stellte er einen Mann seines Vertrauens, einen jungen Offizier, der mit ihm gegen die Honduraner gekämpft und sich durch seine Intelligenz und seine große Brutalität hervorgetan hatte. Es handelte sich um den dreißigjährigen Roberto D’Aubuisson.
Gemeinsam bekämpften sie die Anfänge der Guerilla. Die Informationen der ANSESAL führten sie zum Aufenthaltsort Hunderter organisierter Bauern, der Priester der Basisgemeinden (das Modell der neuen, gerade in Mode gekommenen Theologie der Befreiung für ganz Lateinamerika), der Gewerkschaftsführer und linken Ideologen, die man später ermordet auf irgendwelchen Feldwegen fand, mit durchgeschnittener Kehle, die Atemwege verstopft von Kot und Urin, woran sie erstickt waren. Die Mission von General Chele Medrano und damit die der Streitkräfte war es, mit den Worten eines Guerilleros jener Jahre, »das Kind in der Wiege zu ermorden«. Mit dem Kind war die revolutionäre Bewegung gemeint. Und mit »ermorden« genau das. Doch das Kind wuchs heran, ging in die Berge und lud sein Gewehr.
Im März 1980 gab es eine winzige Hoffnung auf eine politische Lösung. Ein Jahr zuvor hatte eine Gruppe junger Militärs einen Staatsstreich verübt und eine revolutionäre Regierung aus Ökonomen, Doktoren, Politikern und Militärs gebildet. Der damalige Erzbischof von San Salvador, Monseñor Óscar Arnulfo Romero, forderte die Massen auf, Ruhe zu bewahren. Er hatte Vertrauen zu der bürgerlich-militärischen Junta. Und die Massen hatten Vertrauen zu diesem außergewöhnlichen Erzbischof, der zu ihnen in die Gemeinden und Siedlungen kam und von der Kanzel der Kathedrale der Hauptstadt herab die staatlichen Übergriffe verurteilte.
Doch El Salvador ist ein Land abrupter Wendungen. Was heute eine glatte, gerade Straße ist, kann morgen eine Piste voller Schlaglöcher und enger Kurven sein, die das Lenkrad zittern lässt. Eine dieser überraschenden Wendungen ging mit General Chele Medrano vor sich. Er verliebte sich in ein Hippie-Mädchen, eine hübsche, reiche junge Frau, die, einen Joint in der Hand, in ihrem offenen Mercedes-Benz durch die Straßen von San Salvador fuhr. Sie war die Tochter von Ernesto Interiano, einem berüchtigten Banditen