Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

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Название Bildungsphilosophie für den Unterricht
Автор произведения Philipp Thomas
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846357064



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ist jedem [gemeint sind die verschiedenen Gruppen von Lebewesen, Ph.Th.] diejenige Tätigkeit am liebsten, die seiner eigentümlichen Art entspricht. (Aristoteles 1986, 294)

      Welche mag sie [die für den Menschen wichtigste Tätigkeit, die seiner eigentümlichen Art entspricht, Ph.Th.] nun wohl sein? Das Leben offenbar nicht, denn dies besitzen auch die Pflanzen, wir suchen aber das dem Menschen Eigentümliche. Das Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszuscheiden. Es würde darauf das Leben der Wahrnehmung folgen, aber auch dieses ist uns gemeinsam mit dem Pferde und Rinde und allen Tieren überhaupt. Es bleibt also das Leben in der Betätigung des vernunftbegabten Teiles übrig. (Aristoteles 1986, 66)

      Der Geist [νους, Geist, Vernunft, Ph.Th.] nämlich ist das beste in uns, und die Objekte des Geistes sind wieder die besten im ganzen Bereich der Erkenntnis. (Aristoteles 1986, 295)

      Das Vernunftwesen Mensch ist am meisten in der Vernunft es selbst. Wenn das Wichtigste am Menschen das Erkennen durch die Vernunft ist (also nicht etwa nur sinnliche Erfahrung), dann müssen wir hier, in diesem Bereich suchen, wenn wir das höchste selbstzweckhafte Handeln finden wollen, die Eudaimonia. Während wir mit allen Lebewesen das Leben und Wachsen und mit den Tieren die Wahrnehmungsfähigkeit gemeinsam haben, kommt nur den Menschen die Vernunftbegabung zu. Die angemessenste Tätigkeit des Menschen ist für Aristoteles daher die der Vernunft gemäße:

      Denn mag es [die Vernunft als das Beste im Menschen, Ph.Th.] auch klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. […] Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genußreichste. Für den Menschen ist dies das Leben gemäß dem Geiste, da ja dieses am meisten der Mensch ist. (Aristoteles 1986, 297f.)

      Verwirklichung als Vernunftwesen. Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Tugend und der Tätigkeit der Vernunft? Aristoteles meint, dass auch die Vernunft eine Tugend ist. Vereinfacht gesagt: Der Mensch ist ein soziales Wesen und (unter anderem) in der Gastfreundschaft verwirklicht er dieses Wesen. Dafür muss er z.B. seine egoistische Sparsamkeit überwinden. Er ist aber nicht nur ein soziales, sondern vor allem ein Vernunftwesen – und im Leben gemäß der Vernunft verwirklicht er sich als Vernunftwesen. Dafür muss der Mensch frei werden von seinen Leidenschaften, etwa seinen übertriebenen Ängsten und Begierden, frei werden von seinen Bedürfnissen nach Anerkennung und Erfolg. Wie in der Gastfreundschaft ist das Leben hier momentweise am Ziel, die Frage nach einem äußeren Ziel, für das das Vernünftigsein ein Mittel wäre, ist überflüssig. Innerhalb der selbstzweckhaften, der tugendhaften Handlungen gibt es eine Hierarchie. Hier steht die Vernunft ganz oben – weil sie dem Menschen das Angemessenste ist, weil einzig der Mensch Vernunft hat.

      Wunderbare Vernunft. Was heißt Vernunft nun konkret? Die Tätigkeit der Vernunft, verstanden auch als menschliche Sinnerfüllung, besteht im Erkennen und Verstehen der Welt und in einem Leben, das der Weisheit folgt. Dieses Erkennen und Verstehen ist z.B. eine sehr genussreiche Tätigkeit.

      Nun ist aber unter allen tugendgemäßen Tätigkeiten die der Weisheit zugewandte eingestandenermaßen die genußreichste. Und in der Tat bietet die Philosophie Genüsse von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit. (Aristoteles 1986, 295f.)

      Weiter begeistert sich Aristoteles für mehrere günstige Eigenschaften der Vernunft (Aristoteles 1986, 296f.): Zum Betrachten, Erkennen und Nachdenken braucht man nur sich selbst – und keine weiteren Gegenstände oder Umstände, welche unsere Hobbys oft so teuer machen. Und, noch ein Argument, mit der Muße ist eigentlich nur die Tätigkeit der Vernunft vereinbar. Das Theoretisieren, das Nachdenken, die Betrachtung von Weisheiten, es stört die Muße nicht, ist sogar förderlich für diese – anders als Krieg zu führen, den Staat zu lenken, anders als Streben nach Ehre und Macht. Letztere Tätigkeiten schließen die Muße aus. Ein letzter Vorteil der Vernunft: Man kann sie völlig ermüdungsfrei ausüben, das Denken geht von selbst immer weiter. Zugegeben, die Vernunft hat einige prinzipielle Vorteile, doch ist sie deshalb gleichbedeutend mit Glückseligkeit? Zwar können wir nachvollziehen, wie Aristoteles dies ungefähr meint, aber wenn wir nicht ohnehin schon seiner Meinung waren, wird uns diese Ableitung aus der Definition des Menschen als vernünftiges Lebewesen, dass nämlich die Eudaimonia in der Vernunft liegt, nicht ohne weiteres überzeugen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, uns und unsere Schüler:innen von den Vorzügen der Vernunft zu überzeugen.

      Schritt drei: Eudaimonia ist Leben gemäß der Vernunft – gemäß der Unabhängigkeitskompetenz. Vernunft bedeutet frei zu werden von dem, was normalerweise unser Leben bestimmt. Ruhm und Ehre, Vergnügungen und Zeitvertreib, Anerkennung und Bewunderung und vieles mehr: In unserem Alltag jagen wir vielen Zielen hinterher und sind Spielball unserer Bedürfnisse. Immer haben wir Angst, zu kurz zu kommen und schauen ängstlich auf die anderen. Aristoteles möchte uns zeigen, worauf es wirklich ankommt. Und dies ist nichts Übliches, also gerade nicht Ruhm, Ansehen usw. Alle normalen Lebensziele werden eingeklammert und sind nicht mehr wichtig. Es geht um eine Art Verwesentlichung des Lebens, die vor allem in einer großen Souveränität und Freiheit gegenüber unseren mächtigen Bedürfnissen besteht. So müssen wir uns das freie, vernunftgeleitete Leben vorstellen, Aristoteles’ Ideal.

      Vernunft ist nicht normal. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Indem die üblichen und alltäglichen Zwecke unseres Lebens eingeklammert werden, wird jenes, worauf es für Aristoteles in unserem Leben eigentlich ankommt, gerade jenseits von dem gesucht, was für uns zunächst normal ist. Man kann also sagen, Aristoteles verabschiede Normalität – und bestimme stattdessen das richtige Leben anders: Wir sollen uns eine neue Normalität schaffen und diese ist das Leben, das sich von der Vernunft leiten lässt.

      Vernunft bedeutet Unabhängigkeitskompetenz. Waren die Vorteile des theoretischen, des betrachtenden Lebens bisher vielleicht nur für Menschen überzeugend, welche selbst in diese Richtung veranlagt sind, kommt mit der Frage der Lebensform eine so grundsätzliche Ebene ins Spiel, dass Aristoteles’ Argumente immer überzeugender werden:

      Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. […] Die große Menge erweist sich als völlig sklavenartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht […] Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch oberflächlicher zu sein als das, was wir suchen. [Denn man scheint] die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. […] Die dritte Lebensform ist die betrachtende [θεωρητικός, die theoretische]. (Aristoteles 1986, 59f.)

      Sein Leben dem Genuss zu widmen, das bedeutet für Aristoteles, zu leben wie das Vieh, bzw. sich freiwillig zum Sklaven der eigenen Leidenschaft und Begierde zu machen. Die Mutigen und Energischen, so Aristoteles, wählen ein anderes Leben, nämlich ein solches, das ihnen Ruhm und Ehre einbringt, wir würden vielleicht sagen: viel Anerkennung und höchstes soziales Prestige. Doch Aristoteles ist überzeugt: Dies kann noch nicht das letzte Wort sein, noch nicht die gesuchte höchste Lebensform. Denn beim Streben nach Ruhm und Ehre sind wir nicht wirklich frei, vielmehr verhalten wir uns so, dass wir möglichst viel Erfolg haben und eine möglichst große Anerkennung bekommen. Mitunter verhalten wir uns wie außengesteuert, ja wie ferngelenkt. Denn wir sind abhängig von der Anerkennung durch die anderen. Erst die durch Vernunft geprägte Lebensform bringt uns, so Aristoteles, die eigentliche innere Freiheit. Es ist normal, von seinen Leidenschaften und vom Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung beherrscht zu werden. Doch Aristoteles plädiert dafür, neu zu definieren, was normal heißen sollte. Vernunft ist die möglichst große Freiheit und Unabhängigkeit von jenen Bedürfnissen, deren Spielball wir üblicherweise sind. Vernunft ist eine neue, befreite Normalität.

      Aristoteles als Kollege an Ihrer Schule. Übertragen wir dies auf die Schule, dann lautete Aristoteles’ Empfehlung: Sie sollen die Unabhängigkeitskompetenz Ihrer Schüler:innen stärken. Diese sollen lernen, frei zu werden von der Jagd nach dem Vergnügen, auch von der Sucht nach Anerkennung und Erfolg. Und Sie als Lehrkräfte sollen ihnen diese Freuden der Unabhängigkeit nahebringen. Ein Beispiel, das Sie alle kennen: Wie schaffe ich es, meinen ‚inneren Schweinehund‘ zu überwinden und angestrengt zu trainieren oder endlich eine neue Sprache zu lernen oder etwas anzugehen, das ich schon lang angehen will? Indem ich mich dazu