Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

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Название Bildungsphilosophie für den Unterricht
Автор произведения Philipp Thomas
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846357064



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Community der Forschenden immer wieder ganz neue Perspektiven einbringt. Dieses objektive, in der Scientific Community immer weiter vertiefte Wissen gehört zum Ideal und zum Paradigma der modernen Wissenschaft.

      Das Ethos der Forschenden. Aber auch die einzelnen Forschenden sind einem bestimmten Ethos verpflichtet. Sie setzen die Sache an die erste Stelle. Sie versuchen, ihre Ergebnisse möglichst verständlich darzustellen, um so gemeinsam mit anderen das beste Argument oder die beste Lösung zu finden. Die Forschenden beugen sich dem besseren Argument, der besseren Deutung und Interpretation bestimmter Ergebnisse oder auch dem besseren wissenschaftlichen Modell. Und die eigenen Vorschläge für solche Modelle müssen möglichst objektiv sein, man muss sie reinigen von subjektiven Urteilen oder Vorannahmen, die einem unterlaufen, ohne dass man sie überhaupt bemerkt.

      Die Wahrheit über die Wirklichkeit herauszufinden, das ist stets wichtiger als man selbst. Der Soziologe Max Weber (1864–1920) hat diesen Zusammenhang für das Ethos der modernen Forschenden exemplarisch formuliert.

      Hintergrund: Max Weber hat gezeigt, wie durch und durch rational unsere moderne Kultur ist. Prinzipiell kann alles wissenschaftlich erklärt werden (Entzauberung der Welt). Wissenschaft darf nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, die irgendjemand als wünschenswert erscheint (Wertfreiheit).

      Als Wissenschaftler:innen möchten wir vielleicht für geniale Ergebnisse gefeiert werden. Noch wichtiger ist uns aber, dass diese Ergebnisse kleine Bausteine der Forschung sind, auf denen andere weiter aufbauen können. Wir arbeiten für die Sache, nicht für uns selbst.

      […] jede wissenschafliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und veralten. […] Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir. (Weber 1922 (b), 534, Hervorhebung i. O.)

      Uns selbst durchschauen und in der Forschung Wertfreiheit anstreben. Doch Weber geht noch einen Schritt weiter. Bescheidenheit bedeutet nicht nur zurückzutreten, wenn andere Forschende weiterkommen als wir. Sondern Bescheidenheit meint auch, sich darüber klar zu werden, wo in der eigenen Forschung die Tatsachen aufhören und die eigenen Bewertungen anfangen. Als Forschende, insbesondere in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, sollen wir immer besser auch uns selbst und unser Denken durchschauen: Was ist objektive Tatsache und was ist subjektive Bewertung? Weber fordert,

      […] sich selbst unerbittlich klar zu machen: was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit […]. (Weber 1922 (a), 452f., Hervorhebung i. O.)

      […] daß wenn der Lehrer praktische Wertungen sich nicht versagen zu sollen glaubt, er diese als solche den Schülern und sich selbst absolut deutlich mache. (Weber 1922 (a), 460, Hervorhebung i. O.)

      Was aber heute der Student im Hörsaal doch vor allen Dingen von seinem Lehrer lernen sollte, ist: 1. die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden; – 2. Tatsachen, auch und gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungnahme dazu zu scheiden; – 3. seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen […]. (Weber 1922 (a), 455, Hervorhebung i. O.)

      Zur modernen Wissenschaft und ihrer Wahrheitssuche gehört es also, Tatsachen einerseits und bewertende Urteile andererseits voneinander zu trennen. Das bedeutet, den eigenen, individuellen Standpunkt zunächst zurückzunehmen.

      Intellektuelle Rechtschaffenheit als Tugend. Bescheiden sein, sich gegenseitig Rechenschaft geben, sich dem besseren Argument beugen, unbequeme Tatsachen akzeptieren und Tatsachen von Bewertungen trennen – Weber nennt dies intellektuelle Rechtschaffenheit. Er hat das Ethos moderner Wissenschaft exemplarisch in seinen Aufsätzen Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917/18) und Wissenschaft als Beruf (1919) formuliert. Mit Wertfreiheit ist gemeint, dass die Wahrheitssuche der Wissenschaft keinen ideologischen Interessen oder Weltbildern folgen, sondern sich nur an eine Tugend, die intellektuelle Rechtschaffenheit, halten soll. Weber spricht davon,

      […] daß deshalb die ‚intellektuelle Rechtschaffenheit‘ die einzige spezifische Tugend sei, zu der sie [die Wissenschaftler:innen ihre Studierenden, Ph.Th.] zu erziehen haben. (Weber 1922 (a), 453)

      […], daß innerhalb der Räume des Hörsaals nun einmal keine andere Tugend gilt als eben: schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit. (Weber 1922 (b), 555)

      Aber ich will gar keine Wissenschaft betreiben. Blicken Sie von hieraus zurück auf die Frage Ihrer Schüler:innen, weshalb sie das Selbstdenken und das Argumentieren lernen sollen. In diesem Kapitel (1.3) ging es nicht um Lösungen in einer sich laufend ändernden Welt (1.1) und auch nicht um Selbstdenken als Menschenrecht (1.2). Zudem möchten Ihre Schüler:innen später vielleicht gar keine Wissenschaft betreiben. Doch vieles spricht dafür, dass der Erfolg und die Geschwindigkeit, mit der die moderne Wissenschaft fortschreitet, nicht zuletzt auf ihr spezifisches, hier beschriebenes Vorgehen zurückzuführen ist: Alles muss nachvollziehbar begründet sein, alles muss jederzeit von allen kritisierbar sein. So funktioniert eine effektive Lösungssuche. Diese Effektivität ist an einen Ethos gebunden, Weber spricht von der intellektuellen Rechtschaffenheit. Dies ist ein Ideal, ein moderner Wert und soll das Bildungsziel des Selbstdenkens beflügeln.

      Wissenschaftliche Wahrheitssuche und Selbstdenken. Das Vorgehen der Wissenschaft hat viele Parallelen zum Selbstdenken und Argumentieren, denn der eigene Standpunkt muss stets gegenüber der möglichen Kritik anderer vertreten werden, er muss durch Argumente gestützt werden, die man selbst vielleicht entwickelt hat, die aber von den anderen auch verstanden und akzeptiert werden müssen. Wer immer Lösungen sucht, die besser sind als die konkurrierenden Vorschläge anderer zur Lösung derselben Probleme, ob in der Wissenschaft oder wenn es um die eigene Meinung zu einer wichtigen Frage geht, sollte dem Ethos der wissenschaftlichen Wahrheitssuche folgen. Selbstdenken und intellektuelle Rechtschaffenheit sind Ideale schon in der Schule.

      Argumentieren, Begründen, Kritisieren, der Wahrheit verpflichtet sein – dies sind Fähigkeiten, welche die moderen Kultur braucht (Kap. 1.1), welche die Aufklärung als Menschenrecht entdeckt (Kap. 1.2) und welche die moderne Wissenschaft erfolgreich machen (Kap. 1.3). Daher ist Selbstdenken ein Bildungsziel.

      1.4 Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren

      Selbstdenken ist mehr als eine private Ansicht zu äußern. Ihre Schüler:innen sollen lernen, ihre eigene Meinung durch Gründe zu stützen und für andere nachvollziehbar zu machen. Sie sollen lernen, mit Kritik und mit Gegenargumenten umzugehen. Sie sollen auch lernen, den Zwang des besseren Arguments anzuerkennen. Sie sollen lernen, was es heißt, gemeinsam nach der Lösung eines Problems oder gar nach dem besten Modell der Wirklichkeit, ja, nach der Wahrheit zu suchen.

      Regeln des Argumentierens einerseits. Geht es hier nicht einfach um bestimmte Regeln des Argumentierens, die erlernt werden sollen? Das richtige Argumentieren scheint einfach eine formale Fähigkeit zu sein (Schleichert 2004): So darf man sich in seiner Argumentation zum Beispiel nicht widersprechen, man muss stringent und folgerichtig seine Gedanken entwickeln und weitere Regeln beachten, um eine gewisse Fairness der Diskussion zu gewährleisten. Oder man soll mit seinen Argumenten nicht persönlich werden und die sogenannten Argumente ad hominem vermeiden, also Argumente, die auf die Person selbst zielen und diese etwa in ihrer Glaubwürdigkeit angreifen, statt sich auf die Sache zu beziehen, die sie mit Argumenten vertritt (Schleichert 2004, 43ff.).

      Ethos des Argumentierens andererseits. Doch beim Bildungsziel Selbstdenken und Ethos der Wahrheitssuche geht es um mehr als um Argumentationsregeln. Denn im Fokus steht nicht einfach ein erfolgreiches Argumentieren, sondern ein Wert, ein Ethos, eine moralische Gesinnung. Genauer gesagt geht es um die Unterscheidung zwischen einem Argumentieren, das der