Läufers Fall. Lothar Koopmann

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Название Läufers Fall
Автор произведения Lothar Koopmann
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783941297296



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zwei Teelöffeln Zucker. Wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Besser wäre es, als Maßeinheit für den Zucker einen Espresso-Löffel zu nehmen oder zumindest einen Kaffeelöffel. Er öffnet eine Schublade in der kleinen Küche, die das Büro im rechten Winkel um einige Quadratmeter verlängert. Auch wieder so ein Mysterium: Sein Chef hatte den Raum ausdrücklich als Teeküche renovieren lassen. Wie soll er hier Espresso zubereiten? Trotz vorhandener Maschine. Ein Blick in die offene Schublade unter der Arbeitsplatte bestätigt, was er vermutet hat: Neben Messern, Gabeln und Esslöffeln liegen in den schmalen Fächern außer einigen kleinen Kuchengabeln nur Teelöffel. Es ist zum Mäusemelken …

      Vielleicht funktioniert die neue Türklingel nicht mehr, und die Kunden verlassen das Treppenhaus scharenweise unverrichteter Dinge, je nach Temperament enttäuscht oder wütend, weil angeblich geschlossen ist. So würde sich ja nie ein neuer Fall ergeben, da könnte er lange warten.

      Er schlurft zur Eingangstür, öffnet sie (nicht, ohne den Türriegel von innen nach außen zu drehen, um ein Zuschnappen zu verhindern) und drückt energisch auf die Klingel neben dem Lichtschalter für die Treppenhausbeleuchtung. Ein gepflegtes „Dingdong, dingdong, dingdong“ zeigt ihm an, dass alles in Ordnung ist; und dann wird ja wohl auch die Klingel im Erdgeschoss funktionieren.

      Im Umdrehen fällt sein Blick auf das neue Werbeschild, das sein Chef im Zuge der Bürorenovierung neben der Tür hatte anbringen lassen und das gleichlautend jetzt auch draußen die Eingangstür im Erdgeschoss ziert:

       ALTER-NATE

      Detektei

      Nachforschungen aller Art

       Bürozeiten

      Mo. – Fr. 10.14 – 18 Uhr

      Di., Do., Fr. nur 14.14 – 17.35 Uhr

      und nach Vereinbarung

      Sa., So. geschlossen

      Er war nicht besonders glücklich mit der Beschreibung der Öffnungszeiten gewesen, aber sein Chef Achim Alter meinte bei der Planung, es wäre doch für den Kunden schön und hilfreich, wenn er selbst auch etwas nachzuforschen hätte und auf diese Weise am eigenen Leib erführe, dass der Beruf des Detektivs ein schwerer sei, wenn schon die Ermittlung von Öffnungszeiten so kompliziert sein könnte. Wie schwierig müsse es dann erst sein, komplexe Fälle zu lösen …

      Auf dem Weg zurück zur Teeküche blickt er in den mannshohen Spiegel neben den Garderobenhaken. Ihm gefällt, was er sieht: einen dunkelhaarigen Mann Mitte vierzig (na ja, genaugenommen wird er im nächsten Monat 47, aber es kommt schließlich auf die Wirkung an, und er findet, er könnte gut und gerne für 43 oder 43,7 durchgehen), mit 85 Kilogramm bei 1,88 Meter Körpergröße nicht unbedingt schlank, aber auch nicht schwammig, sondern eher angenehm wohlgenährt; das längere Haar der letzten Wochen steht ihm gut. Die wenigen grauen Strähnchen stören nicht, sie geben dem Gesamteindruck vielmehr etwas Seriöses, Glaubwürdiges – ganz wichtig für seinen Beruf –, über den munteren Dreitagebart wollte er demnächst noch einmal nachdenken, ihn aber bis dahin behalten.

      Er zieht den Bauch in der Jeans etwas ein, der Gürtel entspannt sich kurzzeitig, und er denkt: Das Laufen hat mir gut getan. Mit über 100 Kilogramm kurz nach Weihnachten fühlte er sich doch etwas pummelig, nun sitzen alle Hosen wieder fast wie angegossen oder sind sogar zu weit. Und auch die Damenwelt schien seiner Erschlankung wohlwollend gegenüber zu stehen, wie er beim Flanieren über die Königstraße einigen bewundernden Blicken entgegenkommender Frauen entnehmen zu können gemeint hatte.

      Ambrosius ist froh, nach Jahren der sportlichen Enthaltsamkeit und einigen Versuchen, seine Körpergröße als Zuspieler beim Basketball einzusetzen, über eine Rückbesinnung auf den Nachnamen seiner Vorfahren unter die Jogger gegangen zu sein, was seit zehn Monaten nicht nur eine schöne Verringerung des Körpergewichts mit sich gebracht hatte, sondern auch von dem schrecklichen Unfall ablenkte.

      Während er den Kaffeebehälter der Espressomaschine auf Leerstand überprüft und neues Wasser nachfüllt, denkt er kurz an seinen Chef. Achim Alter war am Freitag für eine Woche mit seiner Frau Heidelinde nach Sylt gefahren („Auch die Oktobertage können am Meer ganz würzig sein, und man gönnt sich ja sonst nichts ...“), so dass er nun ganz allein die Stellung hält. Eine Sekretärin wollte Achim Alter sich nicht leisten („Das bisschen Schreibkram schaffen wir beide auch noch selbst.“). Agentur-Mitbegründer Norbert Nate war vor 15 Jahren plötzlich gestorben („Das Herz, lieber Ambrosius, das Herz hat nicht mehr mitgemacht, mitten im Urlaub“, mehr Erklärung hatte Achim Alter für ihn nicht parat), und so saßen sie meist nur zu zweit im Büro, Chef Alter und er.

      Alter und Nate hatten als junge Männer die Detektei mitten in den späten achtziger Jahren gegründet; in den Zeiten vor PC, Internet und Smartphone war es ihnen überhaupt nicht in den Sinn gekommen, der Agentur einen anderen Namen als ihre eigenen zu geben – in alphabetischer Reihenfolge. Erst viel später, bei immer mehr Anglizismen in der deutschen Sprache, stellte sich der Doppelname als Problem heraus: „Alternate“, also wechselnd, vertauscht oder ein Ersatzmann und Stellvertreter wollten die beiden gar nicht sein – aber da war es für eine Umbenennung schon zu spät und diese auch zu teuer („Mein Gott, Ambrosius, was hätten wir alles ändern müssen, um ,Alter-Nate’ zu entfernen. Das wäre unser Ruin gewesen. Außerdem ist uns keine Alternative eingefallen, hahaha.“).

      Die Missverständnisse hatten sich in den neunziger Jahren und vor allem im 21. Jahrhundert gehäuft („Wie, Sie arbeiten gar nicht für die Grünen oder Greenpeace, warum geben Sie sich dann einen solchen Namen, absolut verwirrend. Alternate ist schließlich alternate, da sollte man schon zu stehen, Sie Betrüger, Sie.“).

      Er war seit 14 Jahren dabei, nach 24 Semestern Jurastudium ohne Abschluss, aber mit Abbruch, und dem Bummeln in einigen Sackgassen zunächst für sechs Monate als kostenloser Praktikant in der Firma, dann nach einer speziellen Eignungsprüfung als fest angestellter Junior-Assistent, wegen des Todes von Norbert Nate als wichtigster (weil einziger) Mitarbeiter der kleinen Detektei, in der zuletzt doch Heidelinde Alter als gelegentliche Hilfskraft aushalf („Ambrosius, sie muss uns helfen, wir kommen mit dem ganzen Schreibkram nicht mehr nach.“).

      Ambrosius Läufer mag Heidelinde. Sie ist zwar ein wenig älter, als er aussieht, aber für ihre 44 Jahre hat sie sich prima gehalten und kann gut und gerne für Ende 30 durchgehen: schlank und drahtig die Figur, dabei sehr weiblich, das lange blonde Haar meist zu einem witzigen Pferdeschwanz zusammengebunden, auch die Kleidung stets apart und chic. Sie erinnert mich immer an Eva, denkt er, und fühlt langsam Tränen aufsteigen („Verdammte Hacke, als dein Chef sage ich dir: Tu was gegen diese verdammte Weinerlichkeit, wenn jemand den Namen Eva erwähnt, das ist ja nicht zum Aushalten.“).

      Mehrfach in der Woche treibt Heidelinde Alter Sport, geht oft zur Gymnastik und ist begeisterte Nordic-Walkerin in einem Mülheimer Klub. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann: Achim Alter, 55, klein, stiernackig und kompakt, hält es mehr mit Winston Churchill und genehmigt sich abends gerne einmal ein Zigärrchen nach dem zweiten Verdauungsschnaps („Das muss sein, lieber Ambrosius, man gönnt sich ja sonst nichts ...“).

      Er schmunzelt, als er die Espressomaschine einschaltet und an die spezielle Eignungsprüfung vor über 13 Jahren denkt. „ALTER-NATE“ erhielt einen Auftrag von einer aufgebrachten Ehefrau aus Mülheim: Ihr Mann würde sie ständig betrügen und sie sollten entweder dauerhaft entkräften, dass da etwas dran sei, oder eben beweisen, dass ihre Vermutung stimmte.

      Jeden Freitagnachmittag habe er ihr etwas von langwierigen Teamsitzungen seiner Abteilung zur Vorbereitung eines Börsengangs erzählt und sei nie vor 22 Uhr nach Hause gekommen. Mehrfach habe sie ihn im Büro telefonisch nicht erreichen können, weil keiner abgenommen habe, und sie habe außerdem den Verdacht, verschiedene Male einen leichten fremden Parfümduft an seinem Hals gespürt zu haben, wenn er sie beim späten Willkommen umarmt habe („Und das war gar nicht mehr so zärtlich wie früher. Wissen Sie, als wir vor 25 Jahren geheiratet haben, da war das ganz anders. Jeden Abend hat er mir einen Strauß rote Rosen mitgebracht, und anschließend sind wir immer ...“). Hier stockte sie, errötete und murmelte etwas wie „Sie wissen schon, was ich meine, so jung verheiratet wie wir waren, da ist