Recht für Radfahrer. Dietmar Kettler

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Название Recht für Radfahrer
Автор произведения Dietmar Kettler
Жанр Юриспруденция, право
Серия
Издательство Юриспруденция, право
Год выпуска 0
isbn 9783944101316



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Bürger, der sein Hollandrad an fünf Sonntagen des Jahres aus dem Keller holt und gemütlich durch die Lande radelt, hat wenig gemein mit der Bikerin, die ihr 2.500-Euro-Rad täglich durch den Großstadtdschungel lenkt. Der körperlich vielleicht unsicher gewordene Radfahrer höheren Alters, der in der Kleinstadt zum Einkaufen fährt und bei jeder Annäherung eines Kfz bremst oder gar absteigt, hat andere Interessen als die verkehrsgewandte Radfahrerin, die ein schnelles Fortkommen sucht. Aber allen kann ihr Rad gestohlen werden, und alle haben eventuell schon einmal beim Rad- oder Teilekauf „fabrikneuen Schrott“ gekauft und es erst nachher gemerkt.

      Durch das vorliegende Buch möchte ich beim juristischen Laien die Kenntnis über die Rechtsregeln mehren und um Verständnis dafür werben. Es ist für ihn verständlich geschrieben. Manchem Leser, der mit wissenschaftlicher Literatur gar nicht vertraut ist, werden vielleicht die Urteils- und Literaturzitate lästig sein. Sie sollen dem Interessierten eine Vertiefung ermöglichen. Dadurch dient das Buch auch dem mit der Materie befassten Juristen als zuverlässiger Leitfaden durch die verschiedenen betroffenen Gesetze. Es enthält vor Gericht verwertbare Auslegungshilfen, Argumente und weiterführende Hinweise.

      Der gezielte Zugang auf bestimmte Information findet sich über das Inhaltsverzeichnis und über das detaillierte Sachverzeichnis. Der überdurchschnittlich interessierte Laie sei darauf hingewiesen, dass die einschlägige juristische Literatur in manchen größeren öffentlichen Bibliotheken (und in Universitätsbibliotheken) zur Einsichtnahme vorhanden ist. Gesetzestexte können in Buchhandlungen gekauft werden.

      Das Buch soll praxisnah sein. Für Anregungen und Kritik bin ich daher dankbar. Das Buch erscheint nun in dritter Auflage. Das gibt mir Gelegenheit, mich an dieser Stelle zu bedanken für die Rückmeldungen zur vorangegangenen Auflage.

      Seit der Vorauflage gab es zahlreiche Gesetzesänderungen. Verkehrsrecht und Steuerrecht sind weiterhin eine Spielwiese der Gesetzgeber. Im Zivilrecht und Strafrecht hat es hingegen nur wenige Änderungen gegeben. Die StVO ist seit der zweiten Auflage von „Recht für Radfahrer“ mehrere mal geändert worden, die Änderungen betrafen größtenteils jedoch nur den Autoverkehr und die Befugnisse der Behörden. Größere Änderungen in Bezug auf die Rechte und Pflichten der Radfahrer hat es nicht gegeben. Wie wichtig dem Bundesverkehrsministerium der Radverkehr ist, zeigt eine Posse aus der Welt der Ministerien: Die vom Bundesverkehrsministerium seit 2002 immer wieder angekündigte radverkehrsrelevante StVO-Novelle wurde 2009 verkündet und war seit dem 1. September 2009 in Kraft. Seit dem 13. April 2010 meinte der Bundesverkehrsminister aber, diese Novelle sei wegen eines Formfehlers nichtig. Das Verkehrsministerium stellte seither wieder die alte Fassung der StVO auf seiner Webseite als die gültige dar, während das Justizministerium weiterhin davon ausging, dass die neue Fassung galt und diese als die gültige präsentierte. Welche Fassung galt, mussten sich die Verkehrsteilnehmer selbst aussuchen. Viele Verkehrsbehörden ließen sich durch die Unsicherheit bremsen: Insbesondere bei der Anordnung von Schutzstreifen für Radfahrer herrschte große Unsicherheit, was nun galt, die Anordnung unterblieb dann gleich ganz. Auch, ob und wie man freiwilligen Radverkehr auf links gelegenen Radwegen erlauben kann, war manchen Behörden wegen der ministerialen Ansage unklar; die Aufhebung illegaler linker Radwegebenutzungspflichten unterblieb, unnötige wurden neu angeordnet. Und manche Verkehrsbehörde hoffte gar darauf, dass mit der Bereinigung des Formfehlers auch gleich die Anordnung von Radwegebenutzungspflichten erleichtert werde. Sie verweigerten unter Hinweis auf die seit April 2010 herrschende Rechtsunsicherheit die Aufhebung von (schon 1997/98 mit der damaligen StVO-Novelle) rechtswidrig gewordenen Benutzungspflichten. Bestrebungen des Verkehrsministeriums, den Formfehler zeitnah zu beheben, waren über lange Zeit für die Normadressaten nicht erkennbar; statt dessen gab der Verkehrsminister inhaltliche Änderungsentwürfe in eine Verbändeanhörung. Erst zum 1. April 2013 hat das Bundesverkehrsministerium die von ihm verursachte totale Rechtsunsicherheit durch eine neue Novelle beseitigt. Auf diesem Stand ist daher auch die 3. Auflage von „Recht für Radfahrer“.

      Mit der Novelle zum 1. April 2013 wollte der Verkehrsminister Verkehrszeichen in der bis zum 30. Juni 1992 geltenden Fassung wiederbeleben, die allenfalls von sehr gut sortierten Verkehrsrechtsanwälten und einigen wenigen Antiquariaten recherchiert werden können. Das Vorhaben ist jedoch misslungen; die in ihrer Gültigkeit abgelaufenen Schilder bleiben daher ungültig. Das betrifft auch zahlreiche Radwegbeschilderungen.

      Im Juli 2013 gab es dann nach jahrelanger Diskussion um die Dynamopflicht noch plötzlichen Tätigkeitsdrang bei Bundesrat und Bundesverkehrsministerium, die längst veraltete Pflicht wurde abgeschafft. Aber es wurde eine Regelung verabschiedet, die weder die bisher üblichen Batterie- und Akku-Lichter legalisiert noch technisch sauber definiert, was künftig erlaubt sein soll. Die Neuregelung gilt seit dem 1. August 2013.

      Vor allem gab es in großem Umfang neue Rechtsprechung einzuarbeiten. Die Gerichte arbeiten unablässig an einer Art Strickliesel und produzieren und veröffentlichen Urteile zu (fast) allen Themen rund um das Rad. Seit der Vorauflage konnten so auch einige Grundsatzfragen zum Radverkehr gerichtlich geklärt werden. ♦

      Wie funktioniert Recht?

      Juristische Laien meinen oft, wenn sie eine Gerichtsentscheidung in einer Tageszeitung, einer Zeitschrift oder einem Buch gefunden haben, die dort wiedergegebene Aussage sei „Recht“, „ihr Fall“ müsse genauso entschieden werden. Vor dieser Annahme kann ich nur warnen. Es sei hier deutlich gesagt: Dass eine Frage irgendwann irgendwo mal in einer bestimmten Weise entschieden worden ist, bedeutet nicht, dass der eigene ─ ähnliche ─ Fall genauso entschieden werden muss. Erstens ist das Leben viel zu vielgestaltig, als dass der eigene Fall einem anderen, schon entschiedenen, gleichen könnte. Zweitens sind sich Gerichte durchaus uneinig in der Auslegung von Gesetzenwas sich auch bei guten Gesetzen nicht vermeiden lässt. Wie weit rechts man fahren muss, um dem Rechtsfahrgebot zu genügen: Darauf gibt es keine allgemein gültige und immer richtige Antwort. Urteile ─ auch von Obergerichten ─ bieten also für spätere Fälle nur Argumente, kein bindendes Präjudiz (zu deutsch: Vorentscheidung). Und letztlich erfolgt die Wiedergabe eines Urteils in den nichtjuristischen Medien sehr oft missverständlich oder gar falsch.

      Das führt zu der Frage: Wie funktioniert Recht?

      Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Normen einerseits und Sachverhalten andererseits.

      Normen (Regeln, Vorschriften) sind allgemein gehalten und enthalten u.a. Gebote und Verbote. Sie sind von einem Normgeber im vorhinein für die Zukunft und für eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten gesetzt (daher auch: „Gesetz“).

      Sachverhalte sind hingegen ganz konkret: Das Geschehen, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort zugetragen hat, bildet einen Sachverhalt.

      Normen haben einen Geltungsanspruch; sie sollen auf möglichst jeden Sachverhalt der darin benannten Art angewendet werden. (Rechts-) Normen beinhalten zwar Recht, ohne Rechtsanwendung stehen sie aber „bloß auf dem Papier“. Das bringt Schwierigkeiten mit sich: Hat niemand den Sachverhalt bemerkt, bleibt jede Rechtsanwendung aus. Beispiel: Hat niemand den Rotlichtverstoß nachts um drei Uhr gesehen, wird er nicht geahndet. Hat aber jemand den Sachverhalt bemerkt, muss für diesen konkreten Sachverhalt das Recht noch gefunden werden; hier fängt die eigentliche Rechtsanwendung an. Der Polizist, der Unfallgegner, man selbst und später das Gericht prüfen: Passt die Norm auf den Sachverhalt? Oder umgekehrt: Ist dieser Sachverhalt in der Norm benannt? Bei dieser Prüfung gibt es wiederum zwei Arten von Schwierigkeiten: Erstens die des Beweises; vor Gericht wird sehr oft darum gestritten, ob sich der Sachverhalt wirklich so zugetragen hat, wie die eine Seite behauptet. Ist aber der Sachverhalt unstreitig oder steht er durch gerichtliche Entscheidung fest, gehen die Schwierigkeiten weiter: Gerade weil die Norm sehr allgemein formuliert ist, sind sich z.B. Polizist und Verkehrsteilnehmer uneinig darüber, ob sie auf den Sachverhalt anwendbar ist. Beide Seiten legen die Norm verschieden aus. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen: Eine rote Ampel bedeutet nach § 37 StVO „Halt vor der Kreuzung“. Da Radfahrerampeln zumeist keine Gelbphase haben und nur Rot oder Grün zeigen, kommt es notwendigerweise immer wieder vor, dass Radfahrer bei Rot noch über die Kreuzung fahren. Rot kann sinnvoll also nur bedeuten: „Halt vor der Kreuzung, wenn das noch möglich ist“. Je nach Geschwindigkeit kann bzgl. der ersten Sekunden der Rotphase Streit