Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Название Vollzug
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526943



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junge Beamte sah sie mit geweiteten Augen an, als hätte sie ihm ein unanständiges Angebot gemacht.

      »Äh – ja, klar, kein Problem«, stammelte er nach einer Schrecksekunde. »Wir sind hier fertig.«

      Ihre immer noch sportliche Figur und der lange, dicke, goldene Haarzopf wirkten offenbar selbst in ihrem lausigen Gemütszustand Wunder. Vielleicht lag es auch nur am angedeuteten Stupsnäschen.

      

      

       Kapitel 2

      Wiesbaden

      Oberstaatsanwalt Richter fing sie vor dem Sitzungszimmer ab und stellte ihr die Frage, mit der sie die Kollegen im BKA neuerdings grüßten:

      »Alles in Ordnung?«

      Der Zusatz »Dr. Hegel« in lauerndem Ton fehlte. Ein sicheres Zeichen, dass der Staatsanwalt keinen heimtückischen Angriff auf sie plante. Sie nickte ihm mit gezwungenem Lächeln zu und trat ein. Richter eröffnete die Lagebesprechung, diesmal unterstützt vom leitenden Ermittler des LKA Hamburg, Hauptkommissar Justus Hansen, einem schmächtigen Mittfünfziger mit kahlem Schädel. Der nickte ihr freundlich zu, bevor er ausholte, um die Erkenntnisse im Fall Hassan Moussouni zusammenzufassen. Die ›Lage‹ verlief professionell emotionslos, als ginge alles seinen gewohnten Gang. Sie erwartete nichts anderes, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Gedanken wiederholt abschweiften. Im Geiste stand sie am Bett ihres Partners, der in diesen Minuten in einem Zustand zwischen Leben und Tod schwebte, während Hansen über Haare und Hautschuppen referierte. Seine letzte Bemerkung ließ sie aufhorchen.

      »In der ganzen Wohnung gibt es nur DNA einer einzigen Person.«

      »Das ist unmöglich«, protestierte sie. »Moussouni wird kaum abwechselnd in einem der beiden Schlafsäcke gelegen haben.«

      Hansen nickte schmunzelnd. »Das hat uns auch stutzig gemacht, zumal Fingerabdrücke zweier verschiedener Personen sichergestellt worden sind.«

      »Ganz was Neues. Ein Mensch hinterlässt Fingerabdrücke aber keine DNA«, brummte ein Kollege aus der KT.

      »Das wäre in der Tat verblüffend«, gab Hansen zu. »So ist es aber nicht. Die zweite Person hat ebenfalls DNA hinterlassen, identische DNA.«

      »Eineiige Zwillinge«, rief Chris überrascht. »Hassan Moussouni hat einen Zwillingsbruder. Warum wissen wir nichts davon?«

      Sie richtete die Frage an den Oberstaatsanwalt. Die Peinlichkeit prallte an ihm ab wie die Billardkugel an der Bande und rollte direkt vor Hansens Füße. Der Hauptkommissar antwortete schnell und schneidig, als hätte er genau auf diese Frage gewartet:

      »Der BND wusste Bescheid.«

      Ein Raunen ging durch die Versammelten. Einzelne gedämpfte Flüche waren zu vernehmen.

      »Ich bitte Sie, meine Herrschaften!«, fuhr Richter dazwischen. Dann fragte er Hansen lauernd: »Der BND hat Sie informiert?«

      »Erst auf unsere hartnäckige Nachfrage hin. Hassan Moussounis Zwillingsbruder heißt Ahmed. Der BND weiß von seiner Existenz. Es gibt jedoch keine Akte über ihn. Ahmed Moussouni sei ein weißes Blatt, behauptet der Nachrichtendienst.«

      Richter murmelte etwas, das gar nicht nett klang.

      »Das dicke Ende kommt erst noch«, fuhr Hansen weiter. »Die Fingerabdrücke des Verletzten sind nicht diejenigen des Terrorverdächtigen Hassan Moussouni. Auf der Hamburger Intensivstation liegt sein Bruder Ahmed.«

      Dieser Gedanke hatte Chris schon beim Hinweis auf die Zwillingsbrüder gestreift.

      »Schätze, Ahmed Moussouni ist ab sofort kein weißes Blatt mehr«, bemerkte sie trocken.

      Richter nickte nachdenklich. »Was die Gewaltbereitschaft betrifft, scheint er seinem Bruder in nichts nachzustehen.«

      Eine Pause entstand, während sein Blick über die versammelten Ermittler schweifte, als müsste er sie zählen. Schließlich fügte er eindringlich hinzu:

      »Das bedeutet, meine Herrschaften: Die Suche nach Hassan Moussouni hat eben erst begonnen.«

      Und wir haben wertvolle Zeit verloren, ergänzte Chris im Stillen. Laut fragte sie den LKA-Kommissar Hansen:

      »Was hat die Untersuchung der Satellitenanlage ergeben?«

      Zu ihrer Überraschung antwortete ihre Freundin Caro von der Kriminaltechnik des BKA:

      »Hamburg hat uns das Gerät übergeben. Die Netzspezialisten sind noch an der Arbeit. Bis jetzt steht fest, dass die Benutzer sich praktisch ausschließlich für die Pläne des Hamburger Hafens und dort ansässige Reedereien und Werften interessiert haben. Hinweise auf konkrete Kontakte gibt es bisher allerdings nicht.«

      »Na, das ist doch schon etwas«, freute sich Richter.

      Er sandte einen fragenden Blick Richtung Hansen.

      »Wir übernehmen das«, antwortete der Kommissar aus Hamburg, und alle verstanden, was er meinte.

      Solang die digitale Spur nicht mehr hergab, hieß es Klinken putzen: mühsame und aufwendige Befragung aller denkbaren Kontakte rund um den riesigen Hamburger Hafen. Sie hielt es nicht für wahrscheinlich, dass sich der Gesuchte noch in der Hansestadt aufhielt, aber die Arbeit musste getan werden. Die Spur, die sie zur Wohnung im Plattenbau geführt hatte, endete dort. Hassan Moussouni konnte Gott weiß wo seine dunklen Geschäfte weiterverfolgen. Und Sven lag im Sterben.

      Bei der Rückkehr ins Büro tippte Caro ihr an die Schulter. Die Freundin blickte sie besorgt an. Sie öffnete den Mund, doch Chris kam ihr zuvor:

      »Nicht du auch noch!«, stöhnte sie in Erwartung der Standardfrage.

      »Du siehst Scheiße aus, wollte ich eigentlich sagen.«

      »Nett von dir. Vielen Dank, das hilft.«

      Am Eingang zum Büro zögerte Chris. Nur widerwillig betrat sie den Raum mit Svens leerem Pult. Das Büro kam ihr steril vor. Es roch nach Desinfektionsmittel und Plastikschläuchen. Caro bemerkte ihr Zögern.

      »Du solltest nicht hier sein. Geh nach Hause, nimm ein heißes Bad und hau dich aufs Ohr.«

      Kloppenheim bei Wiesbaden

      Caros Rat war gut gemeint. Schlaf wäre sicher nicht verkehrt in ihrer depressiven Stimmung. Sie hatte es versucht. Stundenlang lag sie mit offenen Augen im Bett in der Dachwohnung des ehemaligen Heuschobers am Kloppenheimer Feld. Milde Nachtluft wehte den Duft frisch geschnittenen Grases durchs offene Fenster herein. In der Ferne rief hin und wieder ein Kauz. Ein Fuchs markierte sein Revier mit kurzem Gebell. Die Voraussetzungen für gesunden Schlaf waren ideal auf dem luxuriösen Dachboden in Caros Haus. Aber ihre kranke Seele fand keinen gesunden Schlaf. Sie versuchte es mit Musik, die ihr stets in traurigen Momenten geholfen hatte. Sie nahm ihr Saxophon aus der Hülle, setzte das Mundstück auf und legte das Instrument lustlos wieder weg, ohne einen Ton zu spielen. Um Mitternacht rief sie das Krankenhaus in Hamburg an und ließ sich mit der Intensivstation verbinden.

      »Sie wünschen?«, murmelte die Stimme eines Arztes, die sich so müde anhörte wie die ihre.

      »Wie geht es dem Patienten Sven Hoffmann? Hat sich sein Zustand verändert?«

      »Sind Sie verwandt mit dem Patienten?«

      »Nein, ich …«

      »Tut mir leid, dann darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«

      »Hören Sie, Doktor – ich mag mich nicht mit Ihnen streiten. Ich bin Oberkommissarin Hegel vom BKA. Ich war dabei, als er angeschossen wurde, und muss wissen, wie es meinem Partner geht. Haben Sie ein Problem damit?«

      »Ich habe kein Problem, aber es gibt Vorschriften.«

      Nach einer kurzen Pause gab er nach:

      »Der Zustand des Patienten