Vollzug. Hansjörg Anderegg

Читать онлайн.
Название Vollzug
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526943



Скачать книгу

Lebens hatte sich offenbar draußen und auf den Pritschen abgespielt. Sie schob den einen Schlafsack vorsichtig beiseite. Ihre Hand zuckte unwillkürlich zurück, begleitet von einem überraschten Ausruf.

      »Bettnässer?«, fragte ihr Partner grinsend.

      »Das Zeug ist noch warm!«, gab sie hastig zurück.

      Sie tastete den zweiten Schlafsack ab. Er war kalt.

      »Einer muss vor wenigen Minuten noch hier gelegen haben«, schloss sie, »höchstens eine Viertelstunde, schätze ich.«

      Sie spürte, wie sich ihre Nackenhärchen sträubten. Das ist unmöglich, sagte ihr Verstand, und Sven sprach aus, was sie dachte:

      »Kann nicht sein. Seit einer Stunde beobachten wir mit dem SEK den Zugang zur Wohnung, das Treppenhaus und den Hauseingang. Die Aufzüge sind ausgeschaltet. Der kann unmöglich unter unsern Augen abgehauen sein.«

      Chris‘ Gedanken überschlugen sich. Eine unbekannte Person, wahrscheinlich der Verdächtige, Hassan Moussouni, hatte in diesem Zimmer gelegen, während sie die Zugänge zur Wohnung beobachteten. Daran zweifelte sie keinen Augenblick. Nun war er verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Es gab nur eine logische Erklärung. Beide eilten gleichzeitig zur Balkontür. Sie war nur zugezogen, nicht verriegelt.

      »Scheiße, der muss ein verdammter Akrobat sein«, knurrte Sven beim Blick in den klaffenden Abgrund.

      Ohne Seil und Haken gab es auch für einen Akrobaten keine Möglichkeit, nach unten oder oben zu entweichen. Der Nachbarbalkon jedoch war mit einem tollkühnen Sprung zu erreichen.

      »Er versteckt sich in einer andern Wohnung auf dieser Etage«, rief sie und rannte hinaus, um das SEK aufzuhalten.

      Zu spät. Bis auf zwei Männer war die Truppe abgezogen. In voller Kampfmontur, mit schwarzer Gesichtsmaske, die nur Augen und Mund freiließ, standen die beiden Wache an der Tür, als führte sie zum Tresor der Bundesbank, statt zu stinkenden Pritschen.

      »Der Verdächtige versteckt sich in einer der Wohnungen auf dieser Etage«, erklärte sie den verblüfften Kollegen. »Rufen Sie Ihre Leute zurück. Wir beginnen beim Treppenhaus.«

      Sven war schon lange genug ihr Partner, um sofort zu verstehen, weshalb sie nicht in den unmittelbaren Nachbarwohnungen zu suchen begann, sondern am Ende des Ganges. Dort lag die einzige Wohnung, deren Tür sich keinen Spalt geöffnet hatte nach der Detonation der Blendgranate. Mit gezogener und entsicherter Pistole stellten sie sich zu beiden Seiten der Wohnungstür auf. Chris drückte auf die Klingel.

      »Polizei, öffnen Sie bitte!«, rief sie laut.

      Nichts regte sich. Kein Geräusch drang aus der Wohnung. Sie drückte länger auf den Klingelknopf, klopfte und wiederholte die Aufforderung mit eindringlicher Stimme.

      »Niemand da«, murmelte Sven kaum hörbar und ließ die Waffe sinken.

      Bevor sie antworten konnte, vernahm sie einen leisen, metallischen Knacks. Innen an der Tür kratzte es, als würde ein Riegel geschoben. Im selben Augenblick, als sich ein Spalt öffnete, schoss Svens Arm mit der Pistole wieder nach oben. Chris hielt den Atem an. Auf halber Höhe erschien ein weißes Gesicht, umrahmt von seidig schimmerndem schwarzem Haar. Schneewittchen, so klein wie ihre Zwerge. Die großen Augen des Mädchens starrten die Polizisten angstvoll an. Chris entspannte sich, beugte sich zum Kind hinunter und beruhigte:

      »Hab keine Angst, Prinzessin …«

      Die Bewegung rettete ihr das Leben. Der Schuss traf Sven mitten ins Gesicht. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Das Mädchen war verschwunden. Der Mann mit dem Gesicht des Fahndungsfotos gab einen zweiten Schuss auf sie ab. Ihre Hüfte brannte augenblicklich. Die Schritte des Gesuchten verhallten im Treppenhaus, bevor sie ihre ›Glock‹ auf ihn richten konnte.

      »Sven – nein!«, stöhnte sie mit erstickter Stimme.

      Unter seinem Kopf bildete sich eine Blutlache. Die Augen starrten ins Leere. Die Gliedmaßen zitterten im eisigen Hauch des Todes. Unscharf wie durch eine falsche Brille nahm sie seine letzten Lebenszeichen war, sah die Männer des SEK auf ihren Partner zustürzen. Als hätte sie Watte in den Ohren, vernahm sie nur Bruchstücke hektischen Funkverkehrs. Sie richtete sich ächzend auf. Das Feuer in der rechten Hüfte hinderte sie nicht daran. Im Gegenteil: Es verlieh ihr Flügel. Ein einziger Gedanke kreiste in ihrem Schädel und trieb sie an: Er darf nicht entkommen!

      Sie hetzte dem Verdächtigen die Treppe hinunter nach. Neugierige Bewohner hatten sich auf den Flur in der siebten Etage gewagt, verschwanden aber beim Anblick ihrer Pistole schneller als Röhrenwürmer in ihren Wohnungen. Der Gesuchte war nirgends zu sehen. Sie hörte seine Schritte nicht mehr, sah jedoch bereits die Verstärkung des SEK die Treppe herauf stürmen. Dieser Fluchtweg war versperrt. Sie musste den Kerl stoppen, bevor er in eine weitere Wohnung eindringen konnte.

      Ihre Hand mit der Waffe fuhr herum, als sie ein Geräusch hinter ihrem Rücken hörte. Ein weißhaariger Mann zeigte sich in einem Türspalt und deutete stumm auf ein schmales Zimmer neben dem Liftschacht. Er zog sich sofort wieder zurück. Eine Abstellkammer? Sie drückte sich an die Wand des Korridors, näherte sich der Kammer, vorsichtig darauf bedacht, das Schussfeld der Türöffnung zu vermeiden. Nach einem tiefen Atemzug versetzte sie der Tür einen kräftigen Faustschlag und brüllte:

      »Polizei! Waffe fallen lassen! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«

      Drei Schüsse waren die Antwort. Sie zerfetzten das Holz genau an der Stelle, wo sie geklopft hatte. Kaum waren sie verhallt, stand der Gesuchte vor ihr. Sie duckte sich. Mit einem einzigen Knall lösten sich zwei Schüsse. Seine sechste Kugel pfiff an ihrem Kopf vorbei, ihre zerschmetterte ihm die rechte Schulter. Seine Pistole fiel scheppernd zu Boden, doch der athletische Mann gab nicht auf. Er stürzte sich mit Triumphgeschrei auf sie, wollte sie mit dem unversehrten Arm in den Würgegriff nehmen. Ihr zweiter Schuss traf ihn in den Bauch. Mit pfeifendem Röcheln sackte er zu Boden, als ginge ihm die Luft aus.

      Männer des SEK umringten sie. Der Einsatzleiter führte sie weg, während seine Leute die Waffe des Schwerverletzten sicherten und Erste Hilfe leisteten, wie sie es als Profis gelernt hatten.

      »Kein Sprengstoff«, lallte Chris.

      Sie grinste dabei albern, als wäre die Feststellung tatsächlich ein Grund zur Freude. Der Einsatzleiter blickte sie besorgt an.

      »Alles in Ordnung?«

      Sie reagierte nicht auf die Frage, die ihre grauen Zellen nur als dumpfes Rauschen erreichte. Es dauerte seine Zeit, bis das Adrenalin nicht mehr kochte in ihren Adern. Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Der Gedanke an Sven jedoch sandte einen lähmenden Schock durch ihren Körper. Die Knie gaben nach. Sie musste sich hinsetzen.

      »Sven – ist er …?«, stammelte sie tonlos.

      Sie brachte die Frage nicht über die Lippen. Der SEK-Mann nahm den Helm ab und streifte endlich die Maske vom Gesicht. Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn schüttelte er den Kopf und sagte:

      »Ihr Partner lebt. Ein glatter Kopfdurchschuss. Es ist ein Wunder, aber sein Zustand ist äußerst kritisch. Er muss sofort in den OP.«

      Nur Minuten später lag sie selbst nach einer Beruhigungsspritze auf der Trage im Rettungswagen. Sie zählte ängstlich die Sekunden, bis sie hörte, wie der Hubschrauber mit ihrem Partner und seinem potentiellen Mörder abhob. Was für ein elender Scheißtag!, dachte sie, bevor ihr die Augen zufielen.

      Sie erwachte kurz nach Mitternacht. Trotz des langen, traumlosen Schlafs fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Wenigstens brannte die Hüfte nicht mehr. Sie tastete vorsichtig nach der Stelle, wo sie der Streifschuss verletzt hatte, und riss dabei um ein Haar den Beutel mit der Infusionslösung vom Haken. Die Hüfte schmerzte nur, wenn sie auf den Knochen drückte.

      »Warum versenken die mich im Krankenhaus?«, murrte sie.

      Sie schwang die Beine aus dem Bett, blieb einen Augenblick benommen stehen im lächerlichen Krankenhemd. Den Sinn dieses Tuchs hatte sie nie verstanden. Ein Stofffetzen, der den Allerwertesten