Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Название Vollzug
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526943



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Er verschloss das Röhrchen mit der Probe, nahm die Plastiktüte mit dem Glas und sagte:

      »Drei Tage. Schneller geht es nicht mit unsern Mitteln. Ich ruf dich an.«

      Der Anruf erreichte Jonas kurz vor Feierabend nach zwei schlaflosen Nächten. Sein Puls schoss an die Decke, als er Kunos Nummer sah. Er zögerte, bevor er auf Empfang drückte, denn er wollte nur eine Antwort hören, und vor der graute ihm. Er meldete sich mit heiserer Stimme:

      »Ja?«

      »Ja«, bestätigte Kuno.

      Das Büro begann sich um ihn zu drehen. Ihm wurde übel, als trudelte er im Sturzflug in ein schwarzes Loch. Kraftlos glitt er zu Boden, blieb an die Tür gelehnt sitzen und rang um Worte.

      »Sie ist deine Tochter Marie«, fügte Kuno hinzu, als hätte er die Botschaft nicht verstanden.

      »Bist – du – sicher?«, gelang ihm endlich zu stammeln.

      »Der Test ist zu 99.999% sicher. Es besteht kein Zweifel: Du bist ihr Vater. Ich schicke dir die Ergebnisse.«

      Jonas murmelte einen Dank und legte auf. Er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, um Johanna die unfassbare Nachricht zu verkünden.

      Er verließ die Wohnung wieder gegen acht Uhr an diesem lauen Sommerabend. Gegessen hatte er nichts. Er verspürte keinen Hunger, wusste aber jetzt, was zu tun war. Das Foto mit Johannas lächelndem Gesicht in der Tasche, schritt er entschlossen auf die Villa ›Weißer Schwan‹ zu, wo die Volkmanns seit den Zeiten der DDR wohnten. Das Haus des Professors war eines der schönsten Gebäude dieser Gegend im Stil der Bäderarchitektur. Weiß wie ein Schwan bildete es mit seinen großen Rundbogenfenstern, den Pilastern, Dreiecksgiebeln und Türmchen den Mittelpunkt eines weitläufigen Parks, der an die Strandpromenade grenzte.

      Am Tor zur Einfahrt verließ ihn der Mut. Er schlenderte ziellos weiter. Am Strand setzte er sich in den Sand, zog das Bild aus der Tasche und sagte mit bitterem Lächeln zu Johanna:

      »Was für eine bescheuerte Idee!«

      Leonie war eine Volkmann. Ihre Adoptiveltern hatten sie aufgezogen, sie offensichtlich gefördert. Der ›Weiße Schwan‹ war ihr Zuhause. Nichts verband Leonie mit ihm und Johanna, mit Ausnahme der Gene. Leonie war und blieb Leonie Volkmann, nicht Marie Ullrich. Lange saß er grübelnd in der Abenddämmerung. Die Wellen brachen sich mit einschläfernder Regelmäßigkeit auf dem flachen Strand, liefen sich tot wie sein verkorkstes Leben.

      Eine Joggerin näherte sich. Sie nickte ihm freundlich zu, war schon vorbei, als er sie erkannte. Wie elektrisiert sprang er auf.

      »Leonie?«

      Sie blieb abrupt stehen, drehte sich um und machte ein paar Schritte auf ihn zu.

      »Kennen wir uns?«

      »Ich war an Ihrem Konzert bei ›TransX‹. Sie haben wunderbar gespielt.«

      Sie lächelte erleichtert. »Ach so, das … Schön, dass es Ihnen gefallen hat. Tut mir leid, dass ich mich nicht an Sie erinnert habe. Es waren eine Menge Leute da.«

      »Ja, vielen Dank nochmals, dass Sie für uns gespielt haben. Ich bin überrascht, Sie noch in Lubmin zu sehen, dachte, Sie seien längst wieder unterwegs nach Paris oder London.«

      »Ich bin tatsächlich auf dem Sprung.«

      Sie machte Anstalten, weiter zu laufen, Richtung Villa Volkmann. In diesem Moment fiel ihm ein, was er tun musste.

      »Einen Augenblick noch«, sagte er hastig. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

      Sie blieb misstrauisch stehen, betrachtete das Foto, das er ihr zeigte, stutzte, sah genauer hin, dann fragte sie leise:

      »Wer ist das?«

      »Ihre Mutter.«

      »Das ist nicht Anna …«

      Sie stockte, sah ihn konsterniert an.

      »Wer sind Sie?«

      »Ganz richtig, Leonie«, sagte er ruhig. »Das hier ist Ihre leibliche Mutter.«

      »Was reden Sie da!«, brauste sie auf.

      Trotzdem ließ sie das Foto nicht aus den Augen.

      »Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Erstaunlich, nicht wahr?«

      »Warum tun Sie das?«, fragte sie gequält.

      »Leonie, ich weiß, dass die Volkmanns Sie als Baby adoptiert haben. Zwangsadoptiert. Ich denke, das sollten Sie wissen.«

      Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. Unvermittelt wankte sie davon, benommen, als wäre sie eben aufgestanden und noch nicht ganz wach. Nach einigen Schritten drehte sie sich nochmals um.

      »Wer ist diese Frau?«

      »Fragen Sie Ihre Eltern«, antwortete er traurig und trottete seinerseits davon.

      Als er wieder an der Einfahrt zur Villa vorbeikam, glaubte er, Fetzen einer lautstarken Auseinandersetzung durch die offenen Fenster zu hören.

      

      

       Kapitel 6

      Fos-sur-Mer bei Marseille, 13. Juni

      Mohammed Hamidi beobachtete durch das Fernglas, wie die ›Baleine‹ an der Mole von Fos-sur-Mer anlegte. Aus seinem leicht erhöhten Versteck konnte er die Hafenanlage des riesigen Flüssiggasterminals fünfzig Kilometer westlich von Marseille gut überblicken. Keine Bewegung auf dem Schiff und am Kai entging seinen scharfen Augen. Die Gelenkarme der Entladestation schimmerten silbrig in der Abendsonne. Nahezu vollautomatisch dockten sie an die Stutzen der Tanks an, die wie gigantische Seifenblasen aus dem Bauch des Frachters ragten. Wenige Minuten nach dem Andocken öffneten Arbeiter die Ventile. Das flüssige, auf -160 °C gekühlte Methan begann in die Rohre zu strömen, die es in die nahen Vorratstanks leiteten. Über hunderttausend Kubikmeter fasste ein einziger dieser isolierten Behälter, die manches Hochhaus überragten.

      Mohammed Hamidis Puls beschleunigte sich beim Gedanken an diese schier unerschöpflichen Brennstoffvorräte. Er richtete sein Fernglas auf die Gruppe der Verwaltungsgebäude und Werkstätten. Alles hing jetzt vom Insider ab. Wenn der Junkie versagte, konnten sie ihren Plan begraben. Die Zeit verrann zähflüssig wie die Melasse auf den Baklava seiner Schwester. Der Tag wollte nicht enden. In der hellen Dämmerung war es schwierig, das Licht in den Büros der Sicherheitszentrale überhaupt zu erkennen. Eine weitere unerträgliche Stunde verging, bevor das Licht in den Fenstern erlosch, wieder aufflammte, dreimal in kurzen Abständen.

      »Das Zeichen!«, rief er seinen Leuten zu, die gelangweilt unter der alten Eiche Karten spielten und rauchten.

      Kurz danach beobachtete er, wie ein weißer Van vom Gebäude wegfuhr, auf die Einfahrt zu, wo sie sich treffen wollten.

      »Auf geht‘s, Brüder. Allah sei mit uns.«

      Der Insider saß mit aschfahlem Gesicht am Steuer des Wagens.

      »Hast du die Steine?«, fragte er mit zittriger Stimme.

      Mohammed Hamidi legte das Päckchen mit dem Rauschgift ins Handschuhfach. Die Augen des Fahrers wollten aus den Höhlen treten. Seine Hand fuhr an den Knopf, um das Fach wieder zu öffnen.

      »Ich brauche jetzt etwas!«, rief er mit rauer Stimme.

      Sofort drückte ihm einer von Hamidis Männern den Lauf seiner Maschinenpistole in den Nacken. Der Insider fuhr los, an den Gebäuden vorbei, entlang den Pipelines zur Mole, wo die ›Baleine‹ angedockt war.

      »Alles ausgeschaltet?«, fragte Hamidi beiläufig.

      Er kannte die Antwort, aber die Frage sollte den Fahrer beruhigen, dessen Hände am Steuer merklich zitterten.

      »Klar, wäre ich sonst hier?«, brummte der gereizt.

      Ihr