Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Название Vollzug
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526943



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zu öffnen, bis die beiden im Korridor verschwanden. Verdutzt ließ sie die Griffe am Spieltisch los und setzte ihnen nach. Der Bärtige redete verärgert auf den Jungen ein, der ihm zahm folgte. Wenigstens wandte der Ältere keine Gewalt an. Trotzdem wollte sie wissen, was vor sich ging. Sie kam nicht dazu, ihn zu fragen. Jochen Preuss stand plötzlich im Flur, gab ihr ein beruhigendes Zeichen und stoppte den Bärtigen mit dem Ruf:

      »Mohammed!«

      Die Männer kannten sich. Mohammed machte seinem Ärger mit einem arabischen Redeschwall Luft, gestikulierte dabei und zeigte mehrfach auf sie mit einem Gesicht, als hätte er ein faules Ei verschluckt. Preuss beschwichtigte ihn freundlich, aber bestimmt. Dabei sprach er fließend arabisch wie der Bärtige. Nach eingehender Diskussion beruhigte sich der Mann. Der Junge durfte gesenkten Hauptes zu seinen Kameraden zurückkehren, während der Bärtige das Haus verließ.

      »Wer war das?«, fragte sie Preuss später im Auto.

      Er fuhr nachdenklich ein Stück weiter, bevor er antwortete:

      »Mohammed Hamidi, ein streng gläubiger Moslem. Er sorgt sich um die moralische Integrität seines jüngsten Bruders. Wahrscheinlich hat ihn die Wache alarmiert.«

      »Alarmiert? Weshalb denn? Welche Wache?«

      Er schmunzelte. »Die Teenager, die auf das Auto aufpassen. Wie alle haben sie größten Respekt vor Mohammed Hamidi.«

      Sie hätte sich anders ausgedrückt. Was sie gesehen hatte, drückte weniger Respekt als pure Angst aus. Der Bärtige schien so etwas wie der Herrscher des Viertels zu sein. Sie behielt den beunruhigenden Gedanken für sich, sagte stattdessen:

      »Monsieur Hamidi schien nicht gerade angetan zu sein von meiner Anwesenheit.«

      »Na ja – wie gesagt, er ist streng gläubiger Moslem. Er war etwas schockiert, seinen Bruder neben einer Frau im Trägerleibchen mit sommerlichem Ausschnitt zu sehen.«

      Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. »Ich dachte, wir sind in Marseille, nicht in Saudi-Arabien«, murmelte sie betroffen.

      »Marseille hat viele Facetten, wie alle Großstädte. Wie auch immer, es ist ja nichts passiert. Er hat sich beruhigt, nachdem ich ihm erzählt habe, wie wichtig Sie als Sponsorin für uns sind.«

      Sie lachte laut auf, kramte einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Tasche und legte ihn aufs Armaturenbrett.

      »Damit Ihr Schwindel nicht so schnell auffliegt«, erklärte sie dazu. »Wie kommt es, dass Sie so gut Arabisch sprechen?«

      »Ich habe es gelernt«, grinste er, »in Paris an der Sorbonne. Dort habe ich vor hundert Jahren Orientalistik studiert. Ich war immer fasziniert von der Sprache und Kultur der arabischen Welt, was mir auch den Spitznamen ›l’arabe‹ eingetragen hat. An der Uni in Paris habe ich übrigens Manon kennengelernt.«

      »Dann hat sich Ihr Studium ja gelohnt.«

      Er nickte und murmelte versonnen lächelnd: »Kann man sagen … kann man wirklich sagen.«

      Port Grimaud, Côte d‘Azur

      Chris streifte die Schuhe ab und trat barfuß auf die Terrasse. Die Sonne hatte die Granitplatten aufgeheizt. Schon am frühen Morgen gaben sie wohlige Wärme ab. Es war beinahe windstill, was ihren Geliebten zu sportlicher Aktivität anstachelte. Mit gemischten Gefühlen sah sie den beiden Männern zu, wie sie versuchten, den Außenbordmotor des alten Schlauchboots anzulassen.

      »Das Ding gehört ins historische Museum«, brummte Jochen Preuss, als der Zweitakter wieder nur zwei Takte schaffte.

      Sie heuchelte Mitgefühl: »Kann ich helfen?«

      Jamie schüttelte den Kopf. »Das ist Männersache.«

      »Sieht nicht so aus. Wie lang übt ihr schon?«

      »Die Stresemanns haben sich mit der Küche entschieden mehr angestrengt als mit ihrem Boot«, musste Jamie zugeben.

      Preuss richtete sich ächzend auf, reckte sich und sagte:

      »Mein Angebot steht. Sie können unsern bescheidenen Kahn benutzen. Immerhin bietet der genug Platz für zwei Personen und den Captain.«

      Der Motor überlebte die ersten zwei Takte. Er jammerte mitleiderregend vor sich hin, aber die Schraube drehte sich.

      »Nicht nötig«, rief Jamie.

      Er streckte strahlend die Hand aus, um ihr an Bord zu helfen. Resigniert verabschiedete sie sich von Jochen Preuss:

      »Schicken Sie uns einen Suchtrupp, wenn wir zum Kaffee nicht zurück sind.«

      Jamie saß betont lässig am Ruder wie ein alter Fischer, der den Weg durch das verwirrende Netz verzweigter Kanäle mit geschlossenen Augen fand. Auf seinem Gesicht jedoch spiegelte sich eine innere Anspannung, dass sie schließlich beruhigend eingreifen musste:

      »Gut machst du das.«

      Er musterte sie misstrauisch. »Du ziehst mich auf.«

      »Nichts liegt mir ferner. Verrätst du mir, wohin die Reise geht?«

      Er zuckte die Achseln. »Habe ich mir noch nicht überlegt. Ein Stück an der Küste entlang Richtung Saint-Tropez, was meinst du?«

      »Die lassen uns da nie und nimmer anlegen mit dieser aufblasbaren Badewanne.«

      »Wir können uns auch einfach treiben lassen, schwimmen, den freien Tag auf dem Wasser genießen.«

      Er steuerte das Boot im Schneckentempo auf die Bucht hinaus. Sie entfernten sich nach ihrem Geschmack zu weit von der Küste. Einer Küste, die ihren Namen Tagen wie diesem verdankte. Versonnen blickte sie aufs himmelblaue Meer hinaus. Das Städtchen an der Spitze der Landzunge musste das berühmte Saint-Tropez sein, ganz niedlich anzusehen aus der Distanz. Sie drehte sich auf den Bauch, schob den Sonnenhut in den Nacken und begann, die Wellen zu zählen. Jamie drosselte den Motor noch weiter, bis er verstummte. Erschrocken fuhr sie auf.

      »Wenn er nun nicht mehr anspringt?«

      »Gute Frage«, murmelte er betroffen.

      Beim zweiten Versuch lief die Maschine wieder. Jamie wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und drehte den Benzinhahn wieder zu.

      »Kein Problem, wie du siehst.«

      Von der Vergangenheit auf die Zukunft eines Motors zu schließen, der an Depressionen litt, war verwegen, doch sie schwieg. Der sanfte Wellenschlag und hin und wieder der Schrei einer Möwe unterstrichen die Stille inmitten der Bucht. Lange Zeit lagen sie in Gedanken versunken nebeneinander, jeder in seiner eigenen Traumwelt, weitab vom Alltag.

      »Wovon Sven jetzt wohl träumt«, fragte sie unvermittelt. »Träumt man im Koma?«

      »Medikamente wie Pentobarbital oder Thiobarbital reduzieren die Hirnaktivität drastisch, aber das Organ arbeitet weiter. Das wird laufend mit dem EEG kontrolliert. Viele Patienten behaupten nach dem Aufwachen, sie hätten geträumt, was durchaus möglich ist.«

      »Da spricht der vorsichtige Mediziner«, lachte sie.

      Es war kein befreites Lachen. Beim Gedanken an ihren Partner auf der Intensivstation erschien ihr das Blau des Wassers mit einem Mal eine Spur dunkler und bedrohlicher. Jamie spürte es. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest.

      »Bald hat er es überstanden«, flüsterte er ihr ins Ohr.

      Eng an seinen Körper geschmiegt, wurde ihr die Hoffnung allmählich zur Gewissheit. Alles würde sich doch noch zum Guten wenden. Ahmed Moussouni würde auspacken, sein Bruder Hassan gefasst werden und Sven wäre wieder ihr alter Partner, als hätte Hamburg nie stattgefunden. In Jamies Armen gab es nur den optimistischen Blick in die Zukunft. Im Augenblick stimmte einfach alles. Als er den Griff lockerte, zog sie ihn fester an sich und sagte leise:

      »Ist gut so.«

      Das Boot schaukelte sanft auf den Wellen. Eine Schönwetterwolke schob sich vor die Sonne und sorgte für willkommene Abkühlung. Sie brauchten nicht zu reden, um ihr