Wohltöter. Hansjörg Anderegg

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Название Wohltöter
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526912



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Kollegen war sie einiges gewohnt bezüglich Titelsucht, aber die Angelsachsen trieben es auf die Spitze. Fast jeder Satz begann oder endete mit Sergeant, Detective Inspector, Chief Inspector. Sie war und blieb hier offenbar der Detective Sergeant. Den temporären Rang hatte sie der Tatsache zu verdanken, dass sie zu Hause beim BKA als Kommissarin arbeitete.

      »Nennen Sie mich doch einfach Chris wie alle meine Bekannten, O. K.?«

      Der Vorschlag gab dem jungen Detective zu denken. Sie fühlte förmlich, wie seine Neuronen feuerten. Erst nach einer Schrecksekunde antwortete er unsicher: »Wie Sie wünschen, Sergeant.«

      »Chris«, korrigierte sie lachend. »Steht für Christiane. Kann sich kein Mensch merken. Also, Ron, wo sind wir eigentlich?«

      »Fünf Minuten bis zum Revier schätze ich.«

      Sie mussten sich beeilen, wollten sie heute noch etwas sehen.

      Es war bereits halb acht, als sie in Begleitung eines nervösen Constable Sellick bei den Reculver Towers eintrafen. In einer guten Stunde würde die Sonne untergehen. Ein Glück, dass das trockene Frühlingswetter anhielt, dachte sie. Bis sie näher an die Absperrung trat. »Oh mein Gott«, murmelte sie erschrocken. »Woher stammen all diese Fußspuren?«

      Sellick wollte antworten, kämpfte aber gegen einen plötzlichen Hustenanfall.

      Ron schüttelte verächtlich den Kopf. »Wann haben Sie denn abgesperrt? Nachdem es alle gesehen hatten?«, fragte er giftig.

      Sie versuchte zu beschwichtigen. »War wohl nicht einfach, die Meute zurückzuhalten«, meinte sie.

      Hier am Ufer brauchten sie nicht nach Spuren Unbekannter zu suchen. Die Tritte der Dorfbewohner hatten alles gründlich zertrampelt. Sie sah, wie Ron zu einer weiteren Bemerkung ansetzte, und sagte schnell:

      »Zeigen Sie uns bitte die Stelle, Constable.«

      Auf einem Felsblock am Ende des Damms blieb sie stehen. Sie ließ den Blick langsam über die vermeintliche Fundstelle schweifen, prägte sich fast unbewusst Eigenart und Einzelheiten der Umgebung ein, bis sie das Gefühl hatte, die Gegend seit Langem zu kennen. Sie stellte sich den toten Körper im Wasser vor. Gestrandet, den Arm eingeklemmt in der Felsspalte. Die Steine wiesen keine sichtbaren Spuren eines Verbrechens auf. Sie mussten natürlich noch mit ihren Instrumenten nach Blutspuren suchen, aber sie glaubte nicht daran, welche zu finden. Die Beobachtung deckte sich mit den Aussagen der Zeugen. Der Körper schien unversehrt gewesen zu sein.

      »Der Fundort ist wohl nicht der Tatort«, sagte sie zu Ron.

      »Wenn es denn ein Fundort ist.«

      Constable Sellick lief rot an. »Die Zeugen sind absolut zuverlässig. Hätten wir Sie sonst alarmiert?«, brummte er ärgerlich.

      »Ron, holen Sie doch bitte das Luminol und die UV-Lampe und etwas zum Abdecken aus dem Wagen.« Der Mann musste beschäftigt werden. Zu Sellick bemerkte sie leise: »Nehmen Sie es nicht persönlich. So ist er immer.« Sie glaubte das selbst nicht, aber es half, die Wogen zu glätten.

      Sie kehrte zu ihrem Gedankengang zurück. War der Mann selbst ins Wasser gesprungen und ertrunken? Suizid? Alles sprach dagegen. Man hatte nirgends Kleider gefunden. Und warum sollte sich jemand die Mühe machen, sich auszuziehen, bevor er sich umbringt? Hatte jemand den Toten hineingeworfen? Unwahrscheinlich. Erstens hätte der Täter die denkbar dümmste Zeit dafür ausgewählt, während das Wasser anstieg. Die Flut hätte den Toten gleich wieder an Land gespült. Jeder halbwegs vernünftige Verbrecher hätte den Leichnam bei abnehmender Tide entsorgt. Zweitens hätte ein Täter nicht ausgerechnet den populären Platz bei den Towers ausgesucht. Die letzte Variante schien ihr am wahrscheinlichsten. Die Meeresströmung hatte den toten Körper angeschwemmt. Das passte zu den Gezeiten und Zeugenaussagen.

      Ron brachte die Lampe, eine Spezialanfertigung, die ohne Generator wie eine starke Taschenlampe funktionierte. Sie bat die beiden Männer, die Schutzfolie über ihr auszubreiten, um sie vom Licht der untergehenden Sonne abzuschirmen. Langsam bewegte sie den unsichtbaren Kegel des ultravioletten Lichts über die Steine. Hin und wieder leuchteten ein paar Punkte auf. Mikroorganismen, keine Blutspritzer. Nach einer Weile richtete sie sich auf. »Nichts, keine Blutspuren und keine Abschürfungen. Hier ist kein Gewaltverbrechen geschehen.«

      »Sag ich doch«, grinste Ron.

      »Bleibt die Frage: Wie ist der Tote wieder verschwunden?«

      »Sie glauben immer noch an die Leiche, Sergeant?«

      »Nichts zu finden heißt ja nicht, dass nichts da war, Detective«, gab sie gereizt zurück.

      Ron übertrieb seine Skepsis, fand sie. Vielleicht die Schule des DCI? Es gab immerhin Zeugenaussagen. Die durften sie nicht einfach ignorieren. Hatten Wellen und Strömung die Leiche wieder auf die offene See getrieben? Auch das war unwahrscheinlich, wenn sie der Aussage der Knaben und der Lehrerin glauben wollte. Der eingeklemmte Arm sprach deutlich dagegen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer sah sie das Bild. Jemand hatte den Toten in der Zeit zwischen der Meldung des Fundes und dem Eintreffen der Polizei abtransportiert. Die Ebbe hatte einen schmalen Streifen des sandigen Bodens um den Damm freigelegt. Fußspuren würde sie kaum finden, aber vielleicht …

      Sie stutzte plötzlich und fragte Sellick: »Legen hier Boote an?«

      »Boote? Meines Wissens können hier gar keine Boote anlegen.«

      »Und doch war kürzlich eines da, sehen Sie?« Sie zeigte auf eine keilförmige Vertiefung im Sand. »Die Kanten sind zu regelmäßig und deutlich ausgeprägt. Sie sind nicht zufällig entstanden. Ich meine, dort lag ein kleines Boot.«

      Ron kniff die Augen zusammen, starrte eine Weile auf die Stelle, dann gab er kleinlaut zu: »Sie könnten recht haben, Sergeant.«

      »Chris«, schmunzelte sie.

      »Das bedeutet, dass wir Küste und Häfen nach ungewöhnlichen Bootsbewegungen absuchen müssen«, murmelte Sellick nachdenklich. »Ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn Sie mich fragen.«

      Sie nickte. »Trotzdem notwendig, fürchte ich.«

      »Und nicht nur die Küste Kents«, ergänzte Ron. »Ihre Kollegen gegenüber in Essex sind genauso betroffen.«

      »Ist mir klar. Ich kümmere mich darum. Ich werde mich auf Sie berufen, falls es Schwierigkeiten gibt.«

      Damit hatten die Detectives kein Problem. Als sie wieder in Rons Wagen saßen, zögerte er, den Motor zu starten.

      »Ich verstehe ja, dass ein Täter seine Leiche verschwinden lassen will«, meinte er kopfschüttelnd. »Aber dass Opfer ausbüchsen und wieder eingesammelt werden, ist mir neu.«

      »Ungewöhnlich«, gab sie zu.

      Sie äußerte ihren Verdacht nicht laut. Spekulationen brachten sie nicht weiter. Ob es ihr passte oder nicht, sie konnten im Augenblick nichts mehr tun. Wohl ganz im Sinne des DCI.

      »Ziemlich enttäuschend, mein erster Einsatz«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Kollegen.

      Ron zog ein schiefes Gesicht. »Daran können Sie sich gar nicht schnell genug gewöhnen, Sergeant – Chris. Der DCI hat zwar eine phänomenale Aufklärungsquote, aber es gibt immer wieder Fälle wie diesen, wo wir in sehr dünner Luft ermitteln müssen. Vor allem im Küstenbereich wird es extrem schwierig. Wissen Sie, wie lang die Küstenlinie Großbritanniens ist?«

      »Keine Ahnung.«

      Er startete den Motor und fuhr los. »Etwa so lang wie der Durchmesser des Planeten, knapp 8‘000 Meilen.«

      Sie schmunzelte. »Zum Glück sind die Küsten von Kent und Essex etwas kürzer.«

      »Schon, bloß glaube ich nicht, dass uns das viel nützt. Ein kleines Boot ist schnell verschwunden, eine Leiche auch.«

      »Sie haben also die Meinung geändert?«, fragte sie spöttisch.

      Er blieb die Antwort schuldig, schweifte vom Thema ab. »Wenn Sie wollen, fahre ich Sie nach Hause. Wo wohnen Sie?«

      »Hätten