Wohltöter. Hansjörg Anderegg

Читать онлайн.
Название Wohltöter
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526912



Скачать книгу

Sean Sellick von der Kent Police in Canterbury blickte verärgert von seinem Bildschirm auf. »Carol, kannst du bitte mal rangehen?« Das Telefon klingelte schon eine ganze Weile, doch seine Kollegin machte keine Anstalten, abzuheben. Sah sie nicht, wie beschäftigt er war? Der Wochenbericht duldete keinen Aufschub. Inspector Fry wollte ihn auf seinem Tisch, sobald er zurückkehrte. »Carol?« Er schaute sich um. Ihr Platz war verwaist. Mit einer unterdrückten Verwünschung griff er zum Hörer.

      »Mary Croydon hier, Constable. Ich muss einen Leichenfund melden.«

      Police Constable Sellicks Ärger verflog augenblicklich. Er tastete nach dem Meldeblock, zückte den Schreibstift und begann mit ruhiger Stimme die sieben Fragen zu stellen, wie er es vor nicht allzu langer Zeit gelernt hatte. Eine nackte, männliche Leiche an der Reculver Beach, praktisch vor der Haustür. Natürlich an einem Nachmittag, wo kein Inspector im Haus war. Wo zum Teufel blieb Carol? Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Mrs. Croydon, sind Sie sicher, dass Ihre Jungen den Toten gesehen haben?«

      »Hören Sie, junger Mann. Ich habe mich selbst überzeugt. Sie können mir glauben, da liegt ein junger Mann im Wasser, und der ist so tot wie Sie, wenn Sie nicht bald jemanden vorbeischicken.«

      »Beruhigen Sie sich, Mrs. Croydon. Ich muss Ihnen diese Fragen stellen. Sie glauben nicht, was …«

      Die Anruferin unterbrach ihn ungeduldig: »Papperlapapp. Was ist, kommen Sie?«

      Sellick atmete auf. Carol kehrte endlich mit zwei Pappbechern und einer braunen Tüte an ihren Platz zurück. »Wo sind Sie jetzt, Mrs. Croydon?« Er notierte die Adresse und verabschiedete sich: »Bleiben Sie bitte dort. Wir sind sofort bei Ihnen.«

      Carol schob ihm einen der heißen Becher hin. »Wieder die Vandalen?«, fragte sie.

      Er schüttelte den Kopf, während er die Nummer des Notarztes wählte. »Wasserleiche bei den Reculver Towers«, erklärte er schnell, bevor sich die Einsatzleitung meldete. Fünf Minuten später fuhr er hinter dem Rettungswagen auf der A28 nach Norden. Carol musste den Kaffee allein trinken.

      »Das hat ja gedauert«, empfing sie Mrs. Croydon ungehalten.

      Sellick wusste jetzt, dass sie Lehrerin an der Grundschule war und genau so verhielt sie sich. So stellte er sich eine Lehrerin vor, in deren Klasse er lieber nicht sitzen wollte. »Wir kamen, so schnell wir konnten«, versuchte er zu beschwichtigen. »Steigen Sie bitte ein und zeigen Sie uns die Stelle.«

      Der Fundort lag genau bei der Ruine des alten Klosters. Die sensationelle Neuigkeit hatte sich offenbar herumgesprochen, und das gefiel ihm gar nicht. Ein halbes Dutzend Neugierige standen am Damm und auf den Felsen. Spuren eines Verbrechens, falls es denn eines war, konnten sie unter diesen Umständen vergessen.

      »Am Ende des Damms, zwischen den Felsen«, sagte Mrs. Croydon, als sie ausstiegen.

      »O. K., Sie bleiben bitte hier. Zurücktreten, Leute. Bitte treten Sie hinter die Wagen zurück, sonst behindern Sie die Polizeiarbeit.« Er stieg mit dem Arzt auf die Felsen. Sie kletterten bis ans Ende des Damms und schauten sich verblüfft an. Weit und breit war nichts von einer Leiche zu sehen.

      »Scheint wasserlöslich zu sein«, grinste der Arzt.

      Sellick blickte mürrisch aufs Meer hinaus. »Finde ich gar nicht witzig.« Es blieb ihm nichts anderes übrig: Er musste ein ernstes Wort mit der strengen Mrs. Croydon reden.

      Sie empfing ihn mit rotem Kopf. »Die Leute behaupten, es gäbe keine Leiche«, sagte sie schnippisch. Es klang wie ein Vorwurf.

      »Er war tot, ganz sicher«, ereiferte sich der kleine Mikey, der sich trotz Mrs. Croydons Verbot wieder zu den Gaffern gesellt hatte.

      Sellick zählte innerlich bis fünf, dann beugte er sich zum Knaben hinunter und fragte ruhig: »Was hast du denn genau gesehen. Erzähl mal.«

      Mikey ließ sich nicht zweimal bitten, ignorierte den strafenden Blick seiner Mutter und berichtete ausführlich über seinen fantastischen Fund. Sellick begriff, dass der Junge eine lebhafte Fantasie hatte, aber die Schilderung deutete auch auf eine gute Beobachtungsgabe hin. Unsicher, ob er der Beschreibung glauben sollte, wandte er sich wieder an Mrs. Croydon, die ihm diesen Einsatz eingebrockt hatte:

      »Tatsache ist, dass hier keine Leiche zu finden ist. Wenn es stimmt, was Sie sagen …«

      »Hören Sie«, brauste die Frau auf. »Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich bin nicht betrunken oder bekifft. Da draußen am Ende des Damms lag ein dunkelhäutiger, schlanker Mann mit glänzend schwarzem Haar im Wasser. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, aber es muss ein Inder oder Pakistani oder etwas Ähnliches gewesen sein. Ich weiß auch nicht, wie er es geschafft hat, zu verschwinden, aber ich weiß, dass er vor einer Stunde noch da war.«

      »Vielleicht die Strömung«, meinte Mikey mit Kennermiene. »Die Flut ist vorbei, das Wasser fließt zurück ins Meer.«

      »Das Wasser ist das Meer, Dummkopf«, lachte sein großer Bruder.

      »Brauchen Sie uns noch?«, wollte der Arzt wissen.

      »Sieht nicht danach aus.« Kurz bevor die Tür des Rettungswagens zuschlug, fügte er hinzu: »Danke, Doktor.« Er beschloss, die Lehrerin und ihre aufgeweckten Jungen ernst zu nehmen, obwohl die Tatsachen gegen sie sprachen. »Ich werde eine Suche veranlassen, Mrs. Croydon. Mehr kann ich im Moment nicht tun, wie Sie sehen. Ich muss Sie bitten, morgen bei uns auf dem Revier vorbeizukommen, um das Protokoll zu unterschreiben.«

      Sie nickte, nahm den Kleinen bei der Hand, versetzte dem Grossen einen leichten Stoß und machte sich mit den andern auf den Heimweg ins Dorf. Sellick holte den Fotoapparat, Pflöcke und die blau-weiße Rolle aus dem Wagen. Er dokumentierte die mysteriöse Fundstelle und sperrte sie weiträumig ab, während er angestrengt überlegte, wie er seinen Einsatz dem von Natur aus skeptischen Inspector erklären könnte, ohne dabei den Kopf zu verlieren. Sie hatten nicht einmal eine anständige Personenbeschreibung für den Abgleich mit den Vermisstmeldungen.

      Scotland Yard, London

      Detective Chief Inspector Adam Rutherford ließ es klingeln. Der Chief wollte ihn sprechen. Das konnte warten. Chief Superintendent Whitney würde seinen zweifellos enthusiastischen Monolog noch früh genug loswerden. Er hatte grundsätzlich Mühe mit begeisterten Leuten, vor allem, wenn sie ihn von der Arbeit abhielten. Er verließ das Glashaus, das er sein Büro nannte und fröstelte, als er das unterkühlte Großraumbüro seiner Mitarbeiter betrat. Er hielt nicht viel von Privilegien und Rängen, aber die Tatsache, dass er als DCI ein sonniges Einzelbüro mit botanisch herausragender Kakteenzucht besaß, entschädigte für vieles. Nicht zuletzt die niemals versiegende Begeisterung seines Chefs.

      Die Mannschaft erwartete ihn im Sitzungszimmer zur Lagebesprechung. Es waren tatsächlich alles Männer, die mehr oder weniger entspannt am langen Tisch saßen. Bisher hatte es keine Frau zu ihm an die Front geschafft. Den Grund kannte er nicht, und er bedauerte es manchmal. Das andere Geschlecht schien sich mehr für die Arbeit hinter den Kulissen in den Labors zu interessieren. Er nickte den Leuten kurz zu.

      »Wo sind Miller und Cawley?«

      »Die Inspectors sind noch in Hammersmith, Sir«, antwortete Ron Cornwallis, der Jüngste und Schnellste seiner Truppe. »Befragung der Stammkunden in der ›Red Lantern‹.«

      »Wird allmählich Zeit, dass wir die Clan-Sache abschließen«, brummte Rutherford ärgerlich. »Also, wo stehen wir, Pete?«

      Sein alter Leidensgenosse bei Schotland Yard, Detective Sergeant Pete Townsend, der seit fünfzehn Jahren partout nicht Inspector werden wollte, kam nicht mehr dazu, zu antworten. Der Telefonapparat auf dem Tisch erwachte lautstark zum Leben. Der schnelle Ron hatte den Hörer in der Hand, bevor sich der DCI ärgern konnte. Er hörte kurz zu, dann reichte er den Hörer seinem Chef. »Wir haben eine Leiche, Sir.«

      Mit zusammengekniffenen Augen hörte er sich an, was die Zentrale ihm zu melden hatte. »Kent? Was geht uns das an?«, unterbrach er unwirsch. Sie hatten wahrlich genug eigene Probleme und keine Zeit und Ressourcen, die Aufgaben der lokalen Polizei auch noch zu übernehmen. Überdies begannen sich seine