Hungern für die Liebe. Cassandra Light

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Название Hungern für die Liebe
Автор произведения Cassandra Light
Жанр Здоровье
Серия
Издательство Здоровье
Год выпуска 0
isbn 9783969405451



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persönlich, fühlte mich nicht angenommen und geliebt. Heute weiß ich, dass meine Eltern nach bestem Wissen und Gewissen handelten. Ich vergebe ihnen, denn ich liebe sie so, wie sie sind. So, wie sie waren. Sie gaben ihr Bestmögliches und hatten ihre eigenen Ängste. Es gab Gründe, weshalb ihnen so wenig Zeit für mich zur Verfügung stand. Einer dieser Gründe war die Arbeit, weshalb wir es materiell immer gut hatten und für mich und meine Schwester gesorgt war.

      Diese Erfahrungen der Kindheit schenkten mir jedoch schon ganz früh die Fähigkeit, ganz bei mir zu sein, in meiner Mitte. Sie ermöglichten es mir, mir selbst durch den Blick nach innen Liebe, Wärme, Lob und Aufmerksamkeit zu schenken. Aus dem Bedürfnis wurde eine Stärke.

      Ein Kind ist von Natur aus offen und nicht geprägt von Ängsten und Erfahrungen. Es blickt liebevoll, voller Erwartungen, Freude und mit offenem Herzen, voller Licht in unsere Welt. Es ist zerbrechlich, verletzlich, unendlich sensibel und liebebedürftig.

      Es darf immer gesehen werden: Ein Kind kommt unbefleckt auf diese Welt und weiß nicht, wie ihm geschieht. Es ist einfach da.

      Ich wünsche vielen Kindern auf dieser Welt, dass sie sanft, liebevoll, voller Verständnis und vorsichtig behandelt werden. Und ich wünsche genauso den Eltern das Bewusstsein für diese Liebe. Die Fähigkeit, so lieben und ihren eigenen Eltern deren Fehler vergeben zu können. Es ist nicht unsere Pflicht, die Fehler und Ängste unserer Eltern zu übernehmen. Wir haben die Wahl.

      Ein Kind bezieht alles auf sich und kann nicht verstehen, warum seine Eltern so handeln, wie sie handeln. So, wie auch ich das nicht verstehen konnte. Ich dachte, ich wäre der »Fehler im System«, den keiner lieben wollte. Der es nicht wert war, geliebt zu werden. Allein. Verloren und ohne Halt. Geboren, um sich hier auf dieser Welt durchzukämpfen und dann doch keine Liebe zu erfahren.

      Auf diese Weise begann ein ablehnendes Bild meiner selbst in mir zu wachsen. Da war aus meiner damaligen Sicht nichts. Nichts, woran ich hätte festhalten können außer Schule, Leistungen, mein Ich sowie die Gedanken und Gefühle, mit denen ich allein war.

      Es gab mich, mein Tagebuch und die Leidenschaft zu schreiben. Bereits mit sieben Jahren schrieb ich täglich Ereignisse, Gedanken und Gefühle nieder. Alles, was mich bedrückte, verletzte, erfreute, und das, was in mir vorging, schrieb ich in mein Tagebuch hinein. Es war mein Freund und Begleiter. Doch auch hier war ich allein, ich erfuhr keine Reaktion auf meine Gedanken.

       Ein Blick zurück

      Ich erinnere mich zurück und weiß, dass das Nicht-Essen schon eine Rolle spielte, seitdem ich bewusst wahrnehmen konnte, was um mich herum geschieht. Allgemein das Thema Essen hatte einen besonderen Stellenwert, insbesondere aber gemeinsame Mahlzeiten. Bei uns in der Familie gab es diese kaum. So mancher denkt vielleicht: Na was denn sonst? Gemeinsame Mahlzeiten sind doch wohl normal! Und ich sage aus meiner Sicht: Nein, das sind sie eben nicht.

      Ja, bei uns gab es Mahlzeiten. Diese nahm ich zusammen mit meiner kleinen Schwester ein. Währenddessen wuselte meine Mutter in der Küche herum, erledigte Arbeiten, die ihr dort in die Hände fielen, machte sauber oder schmierte die Arbeitsbrote für meinen Vater. Alles natürlich weit weg vom Tisch und im Stehen.

      In den seltensten Fällen konnten meine Schwester und ich unser Abendbrot in Gegenwart unseres Vaters genießen. Und auch hier saß meine Mutti nicht mit am Tisch. Sie bereitete lediglich das Essen für alle zu, doch sich selbst nährte sie nicht, jedenfalls nicht gemeinsam mit uns. Sie aß nebenbei.

      Als Kind orientierte ich mich an meinen Eltern. Ich beobachtete, was meine Mutter aß. Immer wieder fragte ich mich: Was esse ich? Ist das normal? Sie isst anders. Esse ich zu viel?

      Wenn ich das verglich, dachte ich: Ja, dann esse ich wohl zu viel. Es ist doch unnormal, wie viel ich esse.

      Mich ärgerte es, denn ich wünschte mir, dass wir alle zusammen aßen. Doch das gab es nicht. Ich empfand es so, als würden wir von unserer überanstrengten, genervten Mutter etwas zu essen vorgesetzt bekommen, getreu dem Motto: »Um zu leben, gehört Essen dazu.« Und ihre Pflicht – ob sie wollte oder nicht – war es, uns Kinder zu versorgen. Das tat sie. An Essen mangelte es nicht, an einer liebevollen, gemeinsamen Mahlzeit schon.

      Zu Recht stellte ich mir irgendwann die Frage: Warum soll ich denn essen? Sie isst doch auch nicht!

      Ich verband mit Essen keinen Genuss, keine Liebe, sah es nicht als etwas Schönes an, vielmehr empfand ich es als Mittel zum Zweck. Für mich war es eher ein Muss. Man möchte leben, also braucht man Nahrung. Nicht mehr und nicht weniger.

      Jetzt, mit vierunddreißig Jahren, bin ich an dem Punkt, an dem mir bewusst wird, was ich mit dem Essen verbunden habe und auch teilweise noch verbinde. Und zwar genau das: etwas Notwendiges. Nichts Schönes. »Das Mittel zum Zweck« – vom Genuss ganz weit entfernt.

      Ich begann, mein Leben, meine Eltern und das Essen zu hassen. Ich wollte nicht mehr auf dieser Welt sein. Essen hieß Leben, und leben wollte ich nicht. Ich ließ Stück für Stück das Essen weg und entfernte mich dadurch immer weiter vom Leben. Mit jedem Hungergefühl war ich dem Leben ferner, während ich meinem Wunsch, nicht mehr auf dieser Welt zu sein, näher kam. Essen zu mir zu nehmen fiel mir immer schwerer, denn »es« arbeitete sozusagen gegen mich. Gegen das festgesetzte Ziel: Raus aus dieser Welt und endlich das Ende des Lebens erreichen! In Frieden und Liebe »da oben« leben und nicht lieblos, allein und pflichtbewusst »hier«.

      Mit der Nahrungsaufnahme kam der Widerstand. Es quälte mich, wenn ich aß. Jeder Bissen erzeugte Abwehr in mir. Mit jedem Bissen kamen Wut und Verzweiflung in mir hoch. Mein Ziel war es, in Ruhe zu sein. In Frieden. In Liebe. Widerstandslos. Ohne Essen auszukommen.

      Jeder, der mir Essen anbot, mich zum Essen überreden wollte, wollte mich aus meiner Sicht an meinem Ziel hindern und mich am Leben halten. Ich jedoch wollte das Leben nicht und empfand Wut, Zweifel und Abwehr gegen alles und jeden, der sich mir bei meiner Zielerreichung, aus dem Leben zu gehen und in Frieden zu sein, in den Weg stellte.

      Die ersten Gedanken in diese Richtung hatte ich bereits mit neun Jahren. Wer möchte schon einen unendlichen und letztendlich erfolglosen Kampf um die Liebe führen?!

      Also begann ich einen Kampf gegen mich selbst. Dafür brauchte ich niemanden, diesen Kampf konnte ich mit mir selbst ausmachen. Ich führte ihn ganz allein. Es lag in meiner Hand, wie der Kampf lief, und niemand konnte den Erfolg oder die Mühe, die ich investierte, ablehnen. Niemand konnte mich ablehnen, denn ich brauchte keinen Menschen mehr und lehnte jeden ab. In diesem Kampf war ich von niemandem außer von mir selbst abhängig. Auf keinen Fall wollte ich mehr jemanden oder eine bestimmte Reaktion brauchen und auf Liebe, Beachtung, Anerkennung oder Lob warten müssen.

      Ich war unabhängig.

      Scheinbar.

      Ob Lob, Anerkennung, Tadel, Verurteilung, Leben oder Tod – all dies lag in meiner Hand. Es war nicht nur eine Entscheidung, sondern meine Entscheidung.

      Irgendwann drang der Wunsch, nicht mehr auf dieser Welt sein zu wollen, nach außen und wurde sichtbar. Einerseits war das gut für mich, denn ich war dem Tod tatsächlich nah. Andererseits wurde es sehr schwierig, meinen Kampf ohne das Außen, ohne Eltern oder Lehrer weiterzuführen. Ich wurde immer verzweifelter, weil ich die Reaktion meiner Mitmenschen ignorierte und sie nicht mehr verstand.

       Freitag, der 29.09.2000

       Hallo liebes Tagebuch!

       Zum Glück ist heute Freitag. Wir haben dieses Wochenende ein verlängertes Wochenende. Montag und Dienstag wird frei sein.

       Ach, liebes Tagebuch, ich habe im Moment nur Sorgen. Am Mittwoch hat mich meine Klassenlehrerin in der Deutschstunde gefragt, wie tief mein Problem denn ist und ob ich breche. Sie hat mit meiner Mutter auf der Elternversammlung gesprochen und so weiter und so fort.

       Na, jedenfalls glauben alle, ich bin krank.

       Und ich, ich bin am Ende. Ich bekomme von allen Seiten Druck. Es heißt nur: