Neubayern. Florian F. Scherzer

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Название Neubayern
Автор произведения Florian F. Scherzer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783940839572



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stand auf und ging zum Holderer. Der nahm zwei große Bögen ab und legte sie vorsichtig auf seine Werkbank. Darunter hing eine Kohlezeichnung der Fassade des kleinen Hauses am Marktplatz. Und in farbig darauf das Bild, das ursprünglich einmal die Front verziert hatte. Die Malerei wirkte viel volkstümlicher als die auf den anderen Häusern. Weniger gekonnt als das Bild vom gütigen König Ludwig oder den Flößern. Das hätte sogar ich besser gekonnt. Vielleicht lag das auch nur am nicht vorhandenen zeichnerischen Können vom Holderer.

      Auf dem Bild vom Wandgemälde sah man einen weißbärtigen Mann, der in Bundhose und Hut ein viel kleineres Wesen, das vielleicht tot war, denn seine Arme und Beine hingen schlaff nach allen Seiten hinunter, auf eine Art Scheiterhaufen legte. Dort lagen schon einige weitere Kleine. Das Gesicht des ersten kleinen Wesens war verkniffen und seine Haut hatte die Farbe von Leder. Wie eine Puppe, die jemand aus einem alten Stück Sattelleder geschneidert hatte. In der Brust des kleinen Wesens steckte ein Pfahl.

      Ich betrachtete das Bild genau und bemerkte, dass ich selbst noch viel genauer betrachtet wurde. Der Holderer beobachtete mich und schien ganz genau wissen zu wollen, wie ich auf das Bild von dem Gemälde reagierte.

      Ich war verlegen und sagte: »Ja.«

      Der Holderer sah mich auffordernd an. »Ja? Und? Was siehst du auf dem Bild?«

      »Das sind die Perchtln, oder? Der Andreas von Rieding, wie er die Perchtln besiegt, oder?«

      »Richtig. Und was hältst du von der Geschichte?«

      »Eine Sagengeschichte halt. Die erzählt man sich halt bei uns im Tal. Die Kinder sollen Angst vor den Perchtln haben, damit sie nichts anstellen. Sie sollen das Viechfieber bringen und auch noch sonst alle möglichen Hexereien machen, die uns schaden.«

      »Hoppla. Was für ein Redeschwall, Kienerjoseph. Aber ist das auch wahr? Meinst du, dass das wirklich passiert ist? Das mit dem Heiligen Andreas und den Perchtln?«

      »Eher nicht, oder? Das sind doch nur Geschichten. Für die Alten und für Kinder. Schreckgeschichten.«

      »Weißt du, was ursprünglich auf das Wagnerhaus gemalt war?«

      Ich zuckte mit den Schultern.

      »Die Maria und das Jesulein. Übermalt und ersetzt durch Andreas Riederer und die toten Perchtln.«

      Der Holderer wirkte jetzt fast verzweifelt.

      »Und in St. Jakob. Da war hinten links ein Korbiniansaltar. Jetzt steht da, prächtig geschnitzt, vergoldet, bemalt und schöner als alles, was da jemals zuvor war, der angebliche heilige Andreas von Rieding mit einem aufgespießten Perchtlkopf. Einfach ausgetauscht. Der Korbinian ist verschwunden. Weggeschmissen oder verbrannt. Und angeblich soll das Weihnachtskripperl in ein Andreaskripperl umgestaltet worden sein. Was meinst du, wie da der Pfarrer geflucht hat, als er davon erfahren hat? Und wenn Pfarrer erst einmal anfangen zu fluchen …«

      Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. In Oberpfaffing gab es auf dem unteren Goaßweg auch eine Kapelle, die Andreas von Rieding geweiht war. Da sah man auch statt eines Kruzifixes einen Andreas mit aufgespießtem Perchtl vor dem Altar. Die Oberpfaffinger nannten den Ort Andreasspieß. Es war seit einigen Jahren wieder in Mode gekommen, zum Andreasspieß zu gehen, um für etwas zu beten. Aber ich hielt es eher für eine Art Aberglaube, wie den Perchtllauf und die Perchtllichter in den Fenstern. Und ich glaube, den meisten Oberpfaffingern ging es genauso.

      »Die Leute können doch nicht einfach ihren eigenen Glauben machen. Wo kämen wir denn da hin? Ein bisschen Volksglauben mit Perchtllauf, schön und gut. Aber ein eigener Heiliger? Unser Bischof heißt Antonius von Rampf und unser Papst heißt Pius IX. Die kümmern sich um den Glauben, den lieben Gott, die Jungfrau Maria und die Heiligen auch. Und nicht die Riedinger!«

      Aus dem Holderer war plötzlich ein furchteinflößender Prediger geworden. Kein Lächeln mehr und kein lustiges »Kienerjoseph«.

      »Und um den Teufel? Kümmern die sich auch um den Teufel?«, fragte ich. Plötzlich ganz mutig.

      »Gerade um den. Gerade um den.«, antwortete der Holderer.

      »Weil, wenn einer den Teufel selbst gesehen hat? Ich kenne einen Buben in Oberpfaffing, der sagt, dass er von ihm gejagt worden ist. Persönlich.«

      »Soll er mit dem Pfarrer reden. Bei euch in Oberpfaffing ist doch so ein neuer, junger.« Der Holderer wirkte ermattet von seiner Predigt. Der heilige Andreas und die Perchtln und der Aberglaube schienen ihn mehr zu interessieren als meine Teufelsgeschichten.

      Ich fuhr trotzdem fort: »Und dann hat es geheißen, dass er das Viechfieber hat, der Bub. Und Sie erzählen von den Perchtln und dem verbotenen Andreas und allem. Da hab ich gedacht, ob das irgendwas miteinander zu tun hat. Oder ob das alles nur ein Schmarrn ist.«

      »Wie heißt er denn, der Bub?«, fragte der Holderer fast gelangweilt.

      »Sailler Benno aus Oberpfaffing, wie ich.« Der Holderer schrieb den Namen nachlässig auf den Rand der Zeichnung. Vielleicht war es auch nur irgendein Gekritzel um mich zu beruhigen. Ich redete weiter:

      »Der war lange beim Doktor, hat geschlafen und jetzt erinnert er sich an fast nichts mehr. Nur ein paar Fetzen noch. Vielleicht kommen die Erinnerungen ja zurück.«

      »Ein paar Fetzen noch, sagst du. Die Erinnerung kommt zurück, meinst du.« Kurz schien es, als würde ihn meine Geschichte doch interessieren. »Ich kann dir da auch nicht helfen. Ich bin nur der Heimatwahrer und kein Doktor und kein Pfarrer.« Sein Zorn von vorhin war jetzt vollkommen verraucht, denn er fragte mich nur noch, ob ich noch mehr Kaffee wolle und noch dies und jenes aus Oberpfaffing.

      Irgendwann brachte er mich wieder hinaus aus seiner Hütte.

      Auf der Turmuhr war es kurz nach zehn. Immer noch fast drei Stunden, die mir in Rieding blieben. Es war warm und meine Fischhose stank furchtbar. Ich hatte noch über einen halben Gulden, Hunger und Durst. Ich ging durch die Lederergasse, die parallel zum Marktplatz verlief. Mir war nicht klar, was der Holderer gerade von mir gewollt hatte. Wollte er sehen, wie ich auf die Geschichten über die Perchtln und den Andreaskult dachte? Als Mann des einfachen Volkes. Oder war der Holderer einfach nur einsam und suchte Ansprache?

      Am Ende der Lederergasse war ein Metzger. Am Markttag verkaufte die Metzgerin in der Gasse warme Riedingerwürstl auf die Hand. Ich nahm zwei Paar und trank dazu Wasser aus einem Brunnen.

      Ich setzte mich neben das Becken und verfluchte die zweieinhalb Stunden, die ich noch warten musste. Was ich nicht alles hätte erledigen können, statt mit der Schwarzbäuerin nach Rieding zu fahren (Nichts, denn meine Fischweiher machten praktisch keine Arbeit).

      Ich saß lange an der Stelle am Brunnen. Auch noch über zwei Stunden später. In der Zwischenzeit waren vorbeigekommen:

      1. Die Elsi im Sonntagsstaat.

      2. Die Wimmerin aus Oberpfaffing mit ihren Versicherungsunterlagen.

      3. Der Gendarm Voigt mit einem Amtmann.

      4. Eine Riedingerin, die sich und ihrem Kind Würstl kaufte.

      5. Drei unterschiedliche Stadterer, die Würstl kauften und direkt vor meiner Nase aufaßen.

      6. Der Voigt diesmal ohne Amtmann in der entgegengesetzten Richtung.

      7. Zwei Riedingerinnen mit Würstln.

      8. Zwei weitere Amtmänner. Ich hörte den Halbsatz »… wenn das kein Latein ist, fress ich einen Besen …«

      9. Eine ganze Familie in Stadtkleidung. Sie rümpften die Nasen beim Anblick der Würstl.

      10. Der Hobmeyerbauer aus Schoham. Würstl essend.

      11. Der Holderer holte sich drei Paar Würstl. Er tat so, als hätten wir uns noch nie gesehen.

      12. Ein Hund.

      13. Ein Bub, der seinen Hund suchte und Würstl kaufte.

      14. Ein Riedinger Gendarm mit dem Voigt. Aufgeregt.

      15. Der Holderer mit einem weiteren Amtmann. Sie gingen