Mich kriegt ihr nicht. Nazar

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Название Mich kriegt ihr nicht
Автор произведения Nazar
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990012734



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versuche, bis heute Abend eine Personenbeschreibung von ihm zu kriegen. Dann stelle ich ein paar Jungs von uns an den Eingang, die die Leute auf Waffen filzen, der Rest verteilt sich verdeckt am Gelände. Wir sind alle über Funk verbunden, sobald der Hurensohn auch nur den Kopf hebt, kriegen wir ihn.«

      »Wenn ihr ihn erkennt«, sagte ich.

      »Ja, Mann. Wenn wir ihn erkennen. Aber das werden wir. Ich weiß, wie wichtig dieses Konzert für dich ist.«

      Über die Hintergründe brauchte mir Sahin nicht mehr zu erzählen, ich wusste schon Bescheid. Bei Erscheinen meines Albums hatte ich in Deutschland eine Reihe von Interviews gegeben, in denen ich jene Rapper scharf kritisiert hatte, die einerseits ihre aufgesetzte Gangster-Attitüde pflegten, gleichzeitig aber plötzlich den Islam für sich entdeckt hatten und den Jugendlichen jetzt ihre erzkonservative Koranauslegung hineinzudrücken versuchten.

      Da ich selbst Moslem bin, ging mir die Scheinheiligkeit dieser Typen gehörig gegen den Strich. In ihren Tracks gaben sie gerne mit Drogen, Waffen und Gewalt an und machten einen auf extradicke Hose, obwohl ich ganz genau wusste, dass bei diesen Leuten nichts dahintersteckte.

      Gleichzeitig nutzten sie das Tool, Moslem zu sein, um sich eine Zielgruppe unter den Jugendlichen zu erschließen, die sie dann per Facebook zum Freitagsgebet aufriefen. Was auf jeden Fall die Scheinheiligkeit zur Potenz war, weil sie am selben Tag Videos posteten, in denen sie vom Mütterficken und ihren eingebildeten Waffendeals schwadronierten. Darauf hatte ich in den Interviews hingewiesen und eingefordert, dass sich die Leute ihrer Vorbildfunktion bewusst werden und die Religion nicht in ihre Vermarktungsmaschinerie hineinziehen sollten.

      Obwohl ich niemanden beim Namen genannt hatte, hatten sich offenbar viele Leute erkannt gefühlt, sodass ich extrem angefeindet wurde. 90 Prozent der Hiphop-Fans waren auf meiner Seite, aber für eine Minderheit war ich zum neuen Feindbild Nummer eins geworden. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis irgendein Spinner sich bemüßigt fühlte, den großen Mann zu markieren und Drohungen gegen mich auszustoßen. Dass es ausgerechnet jetzt vor diesem für mich so wichtigen Konzert in der Arena passierte, war einfach verdammtes Pech.

      Das Problem bei solchen anonymen Drohungen ist immer, dass ihre Gefährlichkeit schwer einzuschätzen ist. Wenn irgendein normaler kleiner Bastard zu stänkern beginnt, dann reichen ein paar Telefonate, um herauszufinden, wer er ist und wie ernst ich sein Gehabe nehmen muss. Bei diesen Salafisten-Wichsern lag die Sache anders. Sie gehen nicht aus der Deckung, weil ihnen Ehre nichts bedeutet. Eine Drohung bezüglich eines möglichen Angriffs auf einem Konzert konnte die lachhafte Fantasie eines 15-jährigen Nerds sein – oder der ernstzunehmende Plan eines Psychopathen, der womöglich eine Waffe in den Zuschauerbereich schmuggeln und die Bühne entern wollte.

      »Hunde, die bellen, beißen nicht«, dachte ich, um mich selbst zu beruhigen. Aber irgendetwas schmeckte mir an dieser Sache nicht. Ich stand auf, kochte mir einen Tee und heizte mir eine Wasserpfeife an. Während ich ein paar Züge nahm und mich von dem vertrauten blubbernden Geräusch einlullen ließ, läutete schon wieder mein Handy. Diesmal war es meine Mutter.

      »Hallo, Mama.«

      »Ardalan! Ich freu mich schon so auf heute Abend. Bist du gesund, ist alles gut?«

      »Ja, Mama. Aber ich muss jetzt noch einiges erledigen. Wir sehen uns dann am Abend.«

      »Ist gut, mein Sohn, bis dann.«

      Scheiße, verdammte. Dass zwei verschiedene Typen sich bei Sahin gemeldet hatten, gefiel mir überhaupt nicht. Das ließ die Drohung ernsthafter erscheinen, als mir lieb sein konnte. Sollte ich die Polizei informieren?

      Die meisten Menschen hätten an meiner Stelle wahrscheinlich so gehandelt, aber ich erwog es nicht einmal für eine Zehntelsekunde. Ich hatte in meinem Leben noch nie die Polizei gerufen, weil sie nie mein Freund gewesen war. Den Teufel würde ich tun und mich ausgerechnet jetzt auf sie verlassen. Ich musste einfach die Zähne zusammenbeißen und auf der Bühne mein Bestes geben. Und wenn der Typ wirklich aufkreuzte und mir einen Besuch auf der Bühne abstattete, dann würde ich eben dafür sorgen, dass er in Zukunft durch sein rechtes Ohr husten musste.

      Nach dem Soundcheck fand ich mich mit meinem Team im Backstage-Bereich ein, der in der Arena sehr großzügig gestaltet ist. Ich hatte eine Reihe Interviews zu geben, ein Meet & Greet mit Fans stand an – das ganze übliche Programm, das vor einem Konzertabend eben zu absolvieren war. In der Routine angekommen vergaß ich vorübergehend fast auf die Bedrohung, die mir umso irrealer vorkam, je länger mein Telefonat mit Sahin zurücklag. Es gab doch immer irgendwelche Spinner, die mit etwas angeben wollten, sicher lag dieses Prinzip auch diesem Fall zugrunde.

      Nachdem das Vorgeplänkel erledigt war, blieb immer noch über eine Stunde Zeit bis zu meinem Auftritt. Ich ging noch einmal schnell in meine Garderobe und zog mich um. Während ich in meine Auftritts-Klamotten schlüpfte, erinnerte ich mich, was für ein Traum es für mich in meiner Jugend gewesen war, ein paar echte Nike Schuhe zu besitzen. Als ich dann vor einiger Zeit von Nike eine Komplettausstattung zugesandt bekommen hatte, einfach nur deshalb, weil ihnen gefiel, was ich machte, war das für mich ein krasserer Moment als alle Werbedeals und Gagen der vergangenen Jahre zusammen gewesen. Ich hatte mich wie ein Kind im Spielzeuggeschäft gefühlt, das plötzlich all das haben durfte, was früher immer zu teuer gewesen war.

      Plötzlich, vielleicht weil meine Mutter an diesem Abend anwesend war, fiel mir wieder ein, wie ich sie über ein Jahr lang angebettelt hatte, dass sie mir Jordan 11er von Nike kaufen sollte. Zu meinem zwölften Geburtstag hatte ich die Schuhe überraschend wirklich bekommen und so sorgfältig gepflegt, dass sie jeden Tag, wenn ich nach Hause kam, wie frisch aus der Schachtel genommen aussahen.

      Als ich älter wurde, ein bisschen mehr Gefühl für Geld bekam und das Einkommen meiner Mutter in Relation zum Preis dieser Schuhe setzen konnte, schämte ich mich so sehr dafür, sie zu diesem Kauf gedrängt zu haben, dass ich sie nie mehr um irgendein Geschenk bat. Ich glaube, dieses Erlebnis hat dazu geführt, dass ich später nicht so sehr an Materiellem hing wie viele meiner Freunde. Für die Finanzierung meiner ersten Musikvideos hatte ich meine Einrichtung versetzt, weil mir ein qualitätsvolles Video wichtiger war als schöne Möbel.

      Ich betrachtete mich im Spiegel der Künstlergarderobe: Ich sah gut aus. Aber wenn morgen alles vorbei sein sollte und ich kein Geld und keine Gratisausstattung mehr hätte, dann würde ich bestimmt nicht daran zerbrechen. Ich wusste genau, wie es sich in meiner Kindheit angefühlt hatte, überhaupt kein Geld zu haben und trotzdem glücklich zu sein. Natürlich war diese gesunde Haltung zu materiellen Dingen für die Jugendlichen heute viel schwieriger zu erlernen als vor zwanzig Jahren. Instagram, Facebook und die permanente Präsenz des Visuellen hatten den Druck verstärkt, immer die neueste und beste Ausstattung haben zu müssen, um dazuzugehören. Ich dachte an diese 15-jährigen Hype-Kids, die ich unlängst auf einem Hiphop-Festival gesehen hatte: Sie trugen Kleidung, die ohne Übertreibung um die 20.000 Euro wert sein musste, hatten aber offensichtlich nicht das geringste Selbstwertgefühl. Was wurde aus solchen Kindern, die sich nur über ihr Äußeres definierten und denen ihre viel zu reichen Eltern in dieser Hinsicht keine Grenzen setzten? Wodurch würden sie als Erwachsene ihre Identität und ihren Selbstwert finden?

      Ich war froh, dass Paul, mein DJ, an meine Garderobentür klopfte, um mich zu erinnern, dass es Zeit für unser übliches kleines Jägermeister-Besäufnis vor dem Auftritt wurde. Das bevorstehende Heimspiel und die Anwesenheit meiner Familie hatten mich anscheinend in eine etwas grüblerische Stimmung versetzt, die nicht der richtige Zustand vor einem Konzert war, bei dem ich wirklich Vollgas geben wollte.

      »Was ist los, Mann? Hast du ein Gespenst gesehen?«, fragte Paul, dem meine seltsame Verfassung nicht verborgen blieb. »Das ist dein Abend, Nazar. Da, schau her.«

      Paul holte sein Smartphone aus der Tasche und zeigte mir ein paar Fotos, die er vom Zuschauerraum gemacht hatte, der sich bereits randvoll mit Fans gefüllt hatte. Aber als ich die Bilder betrachtete, wusste ich sofort, dass die Menge an Zuschauern nicht der Grund war, warum Paul mir die Fotos zeigen wollte.

      Viel beeindruckender als die bloße Anzahl war die Mischung des Publikums: Von ganz jung bis ziemlich alt, von blond und blauäugig bis schwarz vom