Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Damir Skenderovic

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Название Die 1968er-Jahre in der Schweiz
Автор произведения Damir Skenderovic
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198764



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Diskussionen um die «Überfremdung». Andere Forderungen zielen, wie etwa an den Universitäten, auf Demokratisierung und Mitspracherechte ab, während sich im Engagement für Jugendzentren der Wille zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie ausdrückt. Mit Demonstrationen, Strassentheatern, Sit-ins, Go-ins und Teach-ins, aber auch mit der Gründung von neuen Zeitschriften und übergreifenden Netzwerken versucht die Bewegung, ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Auch in den neuen Lebensformen und Lebensstilen, im Drogenkonsum, in der Befreiung von sexuellen Zwängen, im ekstatischen Tanzen zu psychedelischen Klängen oder im Zusammenleben in Kommunen zeigt sich der Wunsch nach einem Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Konformismus.

      Ihren Höhepunkt erreicht die Bewegung in der Schweiz in den Jahren 1968 und 1969, danach beginnt die breite Koalition von unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteuren zu bröckeln, die sich im Zeichen der Hoffnung auf eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft zusammengetan haben. Kapitel IV befasst sich mit diesem Zerfallsprozess, sowohl international wie in der Schweiz. Es zeigt die unterschiedlichen Wege auf, die die «68er» zu Beginn der 1970er-Jahre eingeschlagen, und die Strategien, die sie gewählt haben, um ihre Ziele doch noch erreichen zu können. An den Universitäten radikalisiert sich der Protest Anfang der 1970er-Jahre, und die noch kurz zuvor demonstrativ zur Schau gestellte Diskussionsbereitschaft der Behörden weicht einer zunehmenden Repression. In der französischen Schweiz setzen sich die Proteste auf den Strassen fort, wobei nun vor allem die erstarkte Gegenkultur zum Motor der Mobilisierungen wird. Inzwischen beginnen sich die von der 1968er-Bewegung entworfenen alltagskulturellen Praktiken in der ganzen Schweiz auszubreiten, und aus der Gegenkultur heraus entstehen zahlreiche Projekte wie genossenschaftliche Betriebe, Kultureinrichtungen, antiautoritäre Kindergärten, alternative Presseerzeugnisse und so weiter. Mit dem Engagement in den aufkommenden neuen sozialen Bewegungen wie der Umwelt-, Frauen- oder Friedensbewegung zu Beginn der 1970er-Jahre verabschieden sich viele «68er» vom revolutionären Selbstverständnis und mässigen ihre Forderungen. Mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre schwindet der reformbereite Elan, der die «68er-Jahre» fast ein Jahrzehnt lang geprägt hat.

      Was bleibt von der 68er-Bewegung? Was hat sie bewirkt, wie ist sie zu interpretieren, und wer fühlt sich überhaupt dazugehörig? Diesen Fragen der Wirkungs- und Zurechnungsgeschichte, der Suche nach den Gründen für die Mythen zu «1968» geht das Kapitel V nach. Es zeigt auf, wie uneinig sich auch mehr als 40 Jahre danach Historikerinnen und Historiker, aber auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen darüber sind, was «1968» denn wirklich bedeutet habe. Als Chiffre steht «1968» für vieles und kann vor allem nicht auf die Ereignisse um das Jahr 1968 reduziert werden, deshalb auch die Anführungszeichen. Längst ist «1968» mythologisiert worden, ein jeder interpretiert es nach seinem Gutdünken, und oft sind Deutungen mehr von tagespolitischen Interessen geleitet als von historischen Erkenntnissen. Mit der historischen Rekonstruktion der damaligen Ereignisse sowie anhand geschichtswissenschaftlicher Interpretationen soll das vorliegende Buch einen Beitrag zur Historisierung von «1968» leisten, die in der Schweiz über 40 Jahre danach noch in ihren Anfängen steckt.

Kapitel Ruhe und Unruhe vor dem Sturm

      Nach 40 Jahren Wirtschaftskrise und Krieg setzt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Zeitalter des Wirtschaftswachstums und Wohlstands in Westeuropa ein. Es ist der Anfang der goldenen dreissig Jahre oder Trente Glorieuses, wie es im Französischen heisst. Vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs beginnt nicht nur der Wettkampf zweier Ideologien und Gesellschaftsformen, sondern auch der zweier Wirtschaftssysteme. Relativ rasch erholen sich die westeuropäischen Länder dank massiver Wiederaufbauhilfe der USA und deren Marshallplan von den verheerenden Folgen des Kriegs. Immense Investitionen im Infrastrukturbereich und in Industrieanlagen bei gleichzeitiger Ankurbelung des Konsums und Steigerung des Handelsvolumens haben einen noch nie da gewesenen Wirtschaftsboom zur Folge.

      Mit der Lancierung des westeuropäischen Integrationsprozesses, insbesondere der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957, wird nicht nur die Einbindung Westdeutschlands in die neue Friedensordnung vorangetrieben, sondern auch der Wirtschaftsliberalismus als Credo des Aussenhandels umgesetzt. In den 1950er-Jahren steigen die Wirtschaftswachstumsraten in den europäischen Staaten auf durchschnittlich 3,5 Prozent (Frankreich) bis 6,5 Prozent (BRD), was im Vergleich zu den vorangehenden Jahrzehnten enorm ist. Auch die Arbeitslosigkeit sinkt im Lauf der 1950er-Jahre in fast allen westeuropäischen Staaten und erreicht in den 1960er-Jahren im Durchschnitt den Tiefstand von 1,5 Prozent. Mit dem Ausbau des Sozialstaats, am ausgeprägtesten in Skandinavien, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnungswesen, strebt Westeuropa seine eigene Version eines New Deal an. Als Ausgleich zur wirtschaftsliberalen Öffnung soll die Gewährleistung sozialer Sicherheit die gesellschaftliche Integration breiter Bevölkerungsschichten ermöglichen.

      In den 1950er-Jahren lässt sich in Westeuropa, ähnlich wie in den USA, die Entwicklung zu einer Massenkonsumgesellschaft beobachten. Während mit dem Anstieg der Reallöhne die Menschen mehr Geld zur Verfügung haben, um Konsumgüter zu kaufen, haben sie mit der allmählichen Reduzierung der Arbeitszeit mehr Freizeit und somit auch mehr Zeit, um zu konsumieren. Gleichzeitig sehen Industrie- und Wirtschaftskreise im Massenkonsum eine entscheidende Triebfeder des Wirtschaftswachstums. Wirtschaftszweige wie die Werbe-, Unterhaltungs-, Nahrungsmittel- und Haushaltsgeräteindustrie wachsen enorm und profitieren stark voneinander. Exemplarisch lässt sich dies an der Ausbreitung der Supermärkte aufzeigen: Zwischen 1961 und 1971 steigt deren Anzahl in Frankreich von 49 auf 1833, in den Niederlanden von 7 auf 520. Damit einher geht auch der Siegeszug der Kühlschränke, denn nun können die Menschen ihre Lebensmittel en gros einkaufen und zu Hause dann kühl lagern. Nachdem in der Bundesrepublik 1957 nur gerade mal 12 Prozent aller Haushalte einen Kühlschrank haben, sind es 1974 bereits 93 Prozent. Auch andere Konsumgüter und Statussymbole wie Waschmaschinen, Fernseher und Transistorradios gehören in den 1960er-Jahren zu den Haushalten der immer grösser werdenden Mittelschicht Westeuropas. Gefördert wird diese um sich greifende Einkaufsmentalität durch die rasant wachsende Werbeindustrie, die sich mehr und mehr an den Wunschbildern der amerikanischen Konsumgesellschaft orientiert.

       Erfindung der Jugend

      Wie Karl Mannheim in seiner Generationssoziologie schreibt, ist für jede Jugend ein bestimmter Generationszusammenhang als biografische Phase prägend. In dieser Phase macht die gesamte Generation eine gemeinsame Erfahrung von gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Auf der Basis dieser Erfahrungen prägen sich jeweils bestimmte Orientierungsmuster aus, in denen sich die politischen und sozialen Veränderungen ihrer Jugendzeit widerspiegeln. So kann die Jugend zum eigentlichen Kristallisationspunkt gesellschaftlichen Wandels werden und als Vermittlerin gewisser geistiger und kultureller Strömungen agieren, die sie über den Kreis einiger weniger Intellektueller, Künstler und Kulturschaffender hinaus in die Gesellschaft trägt. Auf diese Weise wird die junge Generation zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Kraft, zu einer Trägerin von sozialen Bewegungen, die generationsspezifische Themenschwerpunkte und Artikulationsformen entwickelt, um sich von der vorangehenden Generation abzugrenzen und dabei eine von Opposition und Protesthaltung bestimmte Aufbruchsstimmung zu kreieren.

      In der Studenten- und Kulturrevolte von «1968» drücken sich Befindlichkeit und Lebensgefühl einer Generation aus, für die der transnationale Strukturwandel der Jugend von entscheidender Bedeutung ist, ein Wandel, der in den 1950er-Jahren einsetzt und sich in den 1960er-Jahren noch verstärkt. Obwohl sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Verständnis von Jugend als eigenständiger Lebensphase und sozialem Subsystem durchgesetzt hat und erste Jugendbewegungen wie Wandervögel und Lebensreformgruppen in Erscheinung getreten sind, kommen bei der jungen Generation der 1950er- und 1960er-Jahre weitere Dimensionen hinzu, die für das Selbstverständnis der Jugend weitreichende Konsequenzen haben. Die in den 1940er-Jahren geborene Generation wurde während der boomenden Nachkriegszeit sozialisiert und hat die Entbehrungserfahrungen des Zweiten Weltkriegs und seiner unmittelbaren Folgen nicht oder kaum miterlebt.