Gestalttherapie mit Gruppen. Stefan Hahn

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Название Gestalttherapie mit Gruppen
Автор произведения Stefan Hahn
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783897975101



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      Sie werden zweifellos ab und zu Wichtiges übersehen, wie auch sonst in Ihrem Leben. Ist es für die Gruppe und ihre Teilnehmer wichtig, wird Sie meist jemand darauf hinweisen. Hier zahlt es sich aus, wenn Sie von Anfang an die Eigenverantwortlichkeit jedes Gruppenmitglieds gefördert haben.

      Natürlich haben Sie als Gruppenleiter auch Verantwortung, aber bei weitem nicht für alles, was in der Gruppe geschieht oder eben nicht. Geteilte Verantwortung für die Geschehnisse in der Gruppe kann Ihren Stress und die Angst reduzieren. Beziehen Sie ganz bewusst die Gruppenteilnehmer mit in die Verantwortung für die Gestaltung des Gruppengeschehens ein. Abgesehen davon, dass dies sowieso eines der wichtigsten Lernziele in einer Gestalt-Gruppe ist, hat diese Vorgehensweise eine sehr entlastende Wirkung für Sie als Gruppenleitung, wenn Sie es denn zulassen können. Das enthebt Sie jedoch nicht der Verantwortung, den Überblick zu behalten und mit der Ihnen angetragenen Macht und Ihrem Einfluss verantwortungsbewusst umzugehen.

      Das Konfliktpotenzial in einer Gruppe ist immens. Ungezügelt könnte es jede Gruppe sprengen. Ein Grund für die Angst des Gruppenleiters vor Konflikten (und die der Teilnehmer natürlich auch) ist also, dass sie eskalieren und die Existenz der Gruppe bedrohen könnten.

      Ein weiterer Grund liegt in der Möglichkeit, dass die ganze Gruppe sich gegen den Gruppenleiter verbündet und dieser Konflikt durch den Ausstoß des Gruppenleiters »gelöst« wird.

      Beide Szenarien sind zumindest in dieser offenen Eskalation eher selten, aber als mögliche Konfliktlösungsmodelle vielen vertraut und daher psycho-dynamisch in vielen Gruppen unterschwellig wirksam.

      Die meisten Gruppen, die Sie bereits leiten oder leiten werden, sind zunächst Zweckgemeinschaften, deren Teilnehmer ein großes Interesse an ihrem Fortbestehen haben. Teilnehmer vollbringen oft eine große Anpassungsleistung, damit es ihnen gelingt, für einen vorher vereinbarten Zeitraum in der Gruppe zu bleiben. Nur wenn sie für bestehende Konflikte keine andere Lösung in der Gruppe gefunden haben, werden sie das Feld räumen. Dies kann übrigens auch ein Indikator für schwelende Konflikte in einer Gruppe sein, wenn Teilnehmer häufig fehlen, später kommen oder früher gehen.

      Zu Beginn einer Gruppe werden Teilnehmer ihre kritischen, feindseligen, potenziell kränkenden, fordernden oder ansonsten von der Gruppennorm abweichenden Impulse eher zurückhalten, um das Zusammenwachsen einer Gruppe und ihr Zusammenbleiben nicht zu gefährden. Grundsätzlich ist diese Fähigkeit, eigene Impulse bewusst zurückzuhalten und zu filtern, eine wichtige soziale Kompetenz, die ich als Gruppenleiter zu schätzen weiß. Für Teilnehmer, die diese Fähigkeit wenig entwickelt haben, wäre dies ein wichtiges Lernziel.

      Andererseits ist in Gruppen gerade die Konfliktfähigkeit ein häufig geäußertes Lernziel der Teilnehmer. Naiverweise hoffen die meisten, dass sie Konfliktfähigkeit anhand von Konflikten lernen können, die sie mit anderen Menschen außerhalb der Gruppe haben: Konflikte mit Arbeitskollegen, Chefs, Partnern, Eltern und Kindern stehen für sie im Vordergrund und werden von Ihnen als Gruppenleiter auch aufgegriffen.

      Von den anderen Gruppenmitgliedern und Ihnen erwarten Teilnehmer oft zunächst uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung für ihre Sichtweise eines Konflikts. Man soll sie selbst wenig infrage stellen und keine unangenehmen, unbequemen eigenen Veränderungen in Aussicht stellen (Einforderung von Konfluenz in der Gestaltsprache).

      Aber genau darum geht es ja. Die Teilnehmer können mit Ihrer Unterstützung als Gruppenleiter lernen, Konflikte in der Gruppe ohne Beziehungsabbruch auszutragen.

      Wir fangen mit einer konventionellen Vorstellungsrunde an. Interessant ist hier in diesem Fall zum Beispiel, dass die Art der Vorstellungen ohne Vorgabe der Gruppenleitung uniform ist – ein oft zu beobachtendes Phänomen.

      Abb. 1

      Als Gruppenleitung könnte ich dann:

      • dies zum Fokus meines Interesses – zur Figur – werden lassen und fragen, was den Teilnehmern aufgefallen sei oder

      • meine eigene Beobachtung mitteilen und

      • zu einer zweiten Vorstellungsrunde einladen, um

      • diesen Prozess bewusst zu erleben und/oder

      • damit zu experimentieren, diesmal aus dem Rahmen zu fallen.

      Bei Teilnehmern mit wenig oder keiner Gruppenerfahrung könnte dies zu angstbesetzt sein und Widerstand provozieren. Stattdessen könnte es so weitergehen:

      »Sucht euch einen Partner, der euch interessiert und findet mehr über ihn heraus.« (s. Abb. 2)

      Abb. 2

      Die untergeschobenen Zitate sind zwar frei erfunden aber meiner Erfahrung nach wirklichkeitsnah. Das wenigste wird davon sofort offen ausgesprochen. Höchstens im Nachhinein, wenn die Gruppenmitglieder eine gute Vertrauensebene aufgebaut haben und diese Erfahrung aus sicherer Vergangenheit laut erinnert werden kann.

      Für den Gruppenleiter ist es wichtig, sich über mögliche ausgelöste Prozesse im Klaren zu sein bei einer solchen simplen, anscheinend unverfänglichen Übung, die gemeinhin als Eisbrecher und Aufwärmübung bekannt ist. Man kann sich vielleicht lebhaft vorstellen, wie unbefriedigend die meisten dieser Begegnungen verlaufen werden und welchen Stress es verursacht, diese Unzufriedenheit zu kaschieren.

      Nach solch einer Übung herrscht oft eine undefinierbare Anspannung in der Gruppe. Alle schauen dann erwartungsvoll den Gruppenleiter an. Mitunter ruft auch jemand ungeduldig aus: »Wann fangen wir denn endlich an, mir geht es hier zu langsam.«

      Die Teilnehmer würden jetzt gerne die Gruppenleitung allein für ihr Unwohlsein in der Gruppe verantwortlich machen. Diese Verantwortung nehme ich nur teilweise an. Stattdessen gilt es, so früh wie möglich die Weichen umzustellen und die Gruppenteilnehmer mit in die Verantwortung zu ziehen:

      »Ich habe angefangen, wie möchtest Du anfangen?« oder:

       »Wozu brauchst Du ein schnelleres Tempo?«

      Die Kultur einer Gestaltgruppe weicht sehr von alltäglichem Verhalten in sozialen Zusammenhängen ab. Ein wichtiger Eckpfeiler ihrer Philosophie ist die Eigenverantwortlichkeit. Die Kunst des Gestaltgruppenleiters besteht meiner Meinung nach darin, Übergangserfahrungen anzubieten, zu pendeln von der Alltagskultur in die Gestaltkultur und wieder zurück.

      Zurück zu unserer fiktiven Gruppe. Eine von vielen anderen Möglichkeiten an die vorherige Übung anzuknüpfen, könnte folgende Aufgabe sein: Stellt den Partner in der Gruppe vor, was ihr von ihm erfahren habt.

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      Abb. 3

      Vielleicht würde ich mich in dieser Gruppe zum Abschluss selbst vorstellen, mit etwa folgendem Wortlaut: »Ich fange an, mich ein wenig zu entspannen, da ich euch jetzt alle näher kennen gelernt habe, danke.« Der aktuelle Hintergrund für meine Restanspannung ist in etwa in Abbildung 4 dargestellt.

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      Abb. 4

      Darf ich vorstellen: Der »Herr in Blau« (rechts) ist mein innerer Supervisor. Die Farbe blau steht für mich für ruhige Klarheit (vgl. a. Kapitel »Der innere Supervisor«). Hier lenkt er meine Aufmerksamkeit auf