Dürnsteiner Würfelspiel. Bernhard Görg

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Название Dürnsteiner Würfelspiel
Автор произведения Bernhard Görg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783903200128



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aber im Fall ihrer Jüngsten lag die Lehrerin bestimmt richtig.

      Sie hatte mit ihrem Stellvertreter, der noch am Vorabend das Team der Spurensicherung für den Einsatz heute Vormittag gebrieft hatte, vereinbart, sich um halb neun zur Besprechung der weiteren Vorgangsweise in ihrem Büro zu treffen.

      Die Sonne schien, von ein paar dünnen Wolken leicht verschleiert, in ihr Fenster. Ihre schwarzen Haare, die sie heute früh gewaschen hatte, in der Hoffnung, sich damit auch den Frust von der Seele zu spülen, glänzten noch stärker als gewöhnlich. Sie hatte sich sogar ihre Stirnfransen frisch geschnitten, weil einige von ihnen schon an ihre Augenbrauen stießen.

      Als Malzacher eintrat, musste sie schmunzeln. Wahrlich kein sehr erhebender Anblick. Der Hemdknopf über dem behaarten Bauchnabel stand wie immer offen. Die Kragenspitzen zerknüllt, als ob er in dem Hemd geschlafen hätte. Und die Kragenweite sicher um zwei Nummern zu klein. Das Hemd hatte er wahrscheinlich schon vor mindestens zehn Jahren gekauft. Seitdem hatte Spencers Hals an Umfang mindestens drei Zentimeter zugelegt.

      »Guten Morgen.« Er kam sofort zur Sache. »Gestern habe ich dir am Telefon gesagt, dass mir Übles schwant. Tut es heute noch immer.«

      »Guten Morgen. Jetzt setz dich einmal nieder. Magst du einen Kaffee?«

      »Nur, wenn du ihn mir höchstpersönlich servierst. Und bitte mindestens auf Augarten. Steht mir zu, wo ich doch bei deinem Chef so hoch im Kurs stehe, findest du nicht?« Er setzte sich wieder auf den Sessel, den er schon gestern Nachmittag mit seinem Gewicht malträtiert hatte. »Vielleicht spendiert er für mich sogar einen neuen Sessel. Den da kann er sich nehmen. Sein Spatzengewicht hält der noch hundert Jahre aus.«

      Doris stand auf. »Augarten habe ich nicht. Aber meine Papierbecher sind von Meißen. Wenn du damit vorliebnimmst, kannst du einen Kaffee haben. Ich bringe ihn dir sogar.«

      Sie gab ihm einen Klaps auf seinen breiten Rücken.

      »Klingt irgendwie preußisch. Aber wenn der Inhalt wenigstens österreichisch stark ist, soll es mir recht sein.«

      Nachdem sie mit zwei Bechern dampfenden Kaffees zurückgekommen war und sich wieder gesetzt hatte, kam sie ohne weiteres Herumalbern zur Sache. »Ich habe ehrlich gesagt auch kein gutes Gefühl. Aber das haben wir am Anfang eines Falles noch nie gehabt. Vielleicht ist es auch gar kein Fall, und jemand hat sich einen Spaß erlaubt und eine Leiche gestohlen.«

      »Doris, da habe ich von dir schon originellere Erklärungen gehört. Wer soll bitte die Leiche einer unbekleideten alten Frau stehlen und in einem Weingarten vergraben? Der einzige, der mir dazu einfällt, wäre ein sternhagelvoller Prosekturdiener. Aber der wäre dann nicht mehr imstande, ihr einen Finger auszureißen.«

      »Du bist sicher, dass er nicht amputiert ist?«

      »Ganz sicher bin ich nicht, aber ziemlich. Auf meiner Rückfahrt von Weißenkirchen bin ich gleich in Krems gewesen und habe den Staatsanwalt informiert. Ganz schön fixer Bursche. Hat gleich in meinem Beisein an der Gerichtsmedizin in Wien angerufen und einen Pathologen angefordert. Hat auch gleich einen aufgetrieben, der versprochen hat, heute nach Krems zu kommen und sich das Skelett anzuschauen. Aber keine Ahnung, wann er mit seiner Arbeit fertig sein wird. Von den Wienern sind wir in der Hinsicht ja nicht gerade verwöhnt.«

      »Und du hast den Verdacht, dass an dem Finger ein Ring gesteckt hat …«

      »… den der Mann nicht gleich vom Finger gekriegt hat. Theoretisch könnte er natürlich am Wert des Ringes interessiert gewesen sein. Aber ich vermute einmal, dass er einfach nicht wollte, dass die Frau über ihren Ring identifiziert werden kann. Nur hat er nichts von der künstlichen Hüfte gewusst.«

      »Könnte der Täter keine Frau gewesen sein?«

      »Eher unwahrscheinlich. Eine Person, auch wenn sie zierlich ist, zweihundert Meter bergauf zu schleppen, setzt sehr große Kräfte voraus. Statistisch betrachtet ist also ein Mann wahrscheinlicher.«

      Die Chefinspektorin nickte zustimmend.

      »Leuchtet mir ein. Und was erwartest du dir von der Spurensicherung?«

      »Um ehrlich zu sein, kann ich das nicht genau sagen. Sie sollen zumindest einen Teil des Weingartens durchackern. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass sie dort neue Skelette finden, aber vielleicht finden sie den Rest eines Kleidungsstücks oder Ähnliches, das uns weiterhilft. Ich habe nämlich wenig Hoffnung, dass wir mit der Kontrollnummer weiterkommen. Wenn sie tatsächlich den Ring finden, dann war es wirklich ein besoffener Prosekturdiener.«

      »Was ist mit dem Besitzer des Weingartens?«

      »Den schließe ich mehr oder weniger aus. Der hätte sonst seinen Kindern nicht erlaubt, an dieser Stelle ihren toten Waldi zu begraben.«

      4. April, 09:10 Uhr

      Keine fünf Minuten nach dem Gespräch mit Spencer läutete das Telefon der Chefinspektorin. Die Sekretärin ihres Chefs, die ebenso neu im Amt war wie er selbst, forderte sie auf, sofort ins Büro des Landespolizeidirektors zu kommen. Dr. Marbolt müsste sie dringend sprechen. Doris war verblüfft. Der neue Kommunikationsstil schlug sich also schon bis zum Sekretariat durch. Diesen Kommandoton hätte sich die Sekretärin ihres früheren Chefs nie erlaubt.

      Während der Fahrt von der Schanze ins Regierungsgebäude musste sie sich mehrmals ermahnen, auf die neue Lage gelassen zu reagieren. Sie durfte nicht erwarten, dass der neue Chef eine Kopie des alten sein würde. Vielleicht tat es der Entwicklung ihrer Persönlichkeit sogar gut, sich auf einen anderen Vorgesetzten einstellen zu müssen.

      Als sie jedoch das knappe »Guten Morgen« der Sekretärin hörte, gefolgt von der Aufforderung, gleich weiter in Marbolts Büro zu gehen, war ihr Vorsatz, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren, bis auf einen kleinen Rest verflogen. Von diesem kleinen Rest blieb nichts mehr übrig, als sie sein Gesicht sah. Ihr neuer Chef sah aus, als ob eine Katastrophe passiert wäre und sie allein die Schuld daran trug.

      Er saß kerzengerade hinter seinem Schreibtisch und las in einer Akte. Mit einer Handbewegung, die an Knappheit nicht zu überbieten war, deutete er ihr, vor ihm Platz zu nehmen. Auch wenn der Blick von Doris in erster Linie auf sein Gesicht konzentriert war, fiel ihr auf, dass er an einem neuen Schreibtisch saß. Auf einem einzigen schlanken Stahlfuß, der sich circa siebzig Zentimeter über dem Boden zu verbreitern begann, lag eine Platte aus Glas in Form eines Ovals. Keine Schreibtischlade. Was für ein Unterschied zum Schreibtisch ihres früheren Chefs. Der war aus einem undefinierbaren Weichholz gewesen, dem man die Zahl der Akten angesehen hatte, die sich dort seit gut fünfundzwanzig Jahren gestapelt hatten.

      »Ich nehme an, meine Liebe, du bist an Offenheit interessiert. Aber auch wenn du es nicht sein solltest, so werde ich trotzdem offen zu dir sein.«

      »Wenn du mit meinem früheren Chef gesprochen hättest, hätte er dir sicher gesagt, wie sehr ich Offenheit schätze.« Doris war gleichzeitig überrascht und erfreut über ihre Antwort. Gut gebrüllt, Löwin. Sie konnte an seinem Gesicht erkennen, dass er mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. Sie empfand es als kleine Genugtuung, dass er noch gereizter fortfuhr, als er ohnehin schon war.

      »Ich schätze es gar nicht, wenn in diesem Raum immer noch alte Zeiten beschworen werden. Ich sage dir das, ohne auf unangebrachte Sentimentalitäten Rücksicht zu nehmen. Das ist auch Teil meiner Offenheit. Haben wir uns verstanden?«

      Doris entschied sich, diese Frage nicht zu beantworten. Sie blickte ihrem Chef unverwandt ins Gesicht, wie sie es auch schon in ihrem ersten Gespräch mit ihm getan hatte. »Du wirst mir bestimmt gleich sagen, warum du mich herbestellt hast?«

      Marbolt setzte ein überraschtes Gesicht auf. »Jetzt enttäuschst du mich aber. Da wird in meinem Zuständigkeitsbereich eine Leiche gefunden, und ich als oberster Chef erfahre nichts davon. Und du ahnst nicht, warum ich dich gerufen habe?«

      »Da muss ich dich leider korrigieren. Wir haben keine Leiche, sondern ein Skelett gefunden. Das ist ein großer Unterschied. Wir wissen noch nicht einmal, ob es da für uns etwas zu untersuchen gibt. Du kannst versichert sein, dass du sehr rasch davon erfährst, sollte die Staatsanwaltschaft