Название | Ruhe sanft |
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Автор произведения | Thomas Sandoz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038670438 |
Wie allzu oft in letzter Zeit treibt es ihn auch in der folgenden Nacht aus dem warmen Bett. Er trinkt Mineralwasser in grossen Schlucken, um die Bilder zu löschen: Kinder werden von Rasern über den Haufen gefahren, ihre Gesichter von schlecht abgerichteten, in Beisswut erstarrten Kampfhunden zerschlitzt. Er hört die Nachtsendungen auf seinem Radiowecker, den er auf den Küchentisch gestellt hat. Er spielt mit seinen Fingern auf dem Stromkabel, als wären sie Seiltänzer. Vor ihm liegt sein offenes Notizheft. Als das Brennen in seinen Augen zu stark wird, geht er wieder ins Bett und wartet, dass die Bilder hinter seinen Lidern verschwimmen.
Mit dem ersten Aufflackern des Frühlings schiesst das Unkraut wieder aus dem Boden, breitet sich weitflächig aus. An mehreren Vormittagen absolviert er eine Straftour, die Gartenhacke in der Hand. Er geht die Alleen hinauf, manchmal bis zum Hauptgebäude. Eine breite, beschwerliche Treppe führt zu den Glastüren und durch die Eingangshalle in den ökumenischen Gedenkraum. Er geht nicht hinein. Er kümmert sich auch nicht um die überquellenden Aschenbecher. Er streift in schwarze Kreppseide gekleidete Schatten. Nicht selten treffen sich Familien schon eine halbe Stunde, bevor die Bestattung beginnt. Was für eine Erkältung allemal reicht.
Nach einem Abstecher ins Besucherklo steigt er zum Empfangspavillon hinunter. Aus dem Kamin steigen dünne Rauchschwaden. An einigen Fenstern sind die orangefarbenen Vorhänge zugezogen, durch andere ist das lähmende Flirren von Neonleuchten zu sehen. Mit einem Plastikbesen säubert er die Behindertenparkplätze. Dann schlendert er durch die Reihen der Bezirke E und H, nimmt Kippen, Bonbonpapiere und Quittungen von Blumeneinkäufen auf. Er lädt sich verwelkte Blumensträusse auf den Arm, wirft sie in die Mülltrenneimer. Die stattlichen Gipfel der Voralpen verdecken jetzt die Sonne. Zeit für ihn, nach Hause zu gehen.
Kaum ist er aus dem Friedhof, kreuzt er eine ungestüme Kindergartenklasse. Paarweise hüpfen die Kleinen hintereinander her. Von der Waschanlage kommt bei schlechter Sicht ein Betonmischer um die Kurve. Er reisst die Arme empor, heult auf, setzt mit einem Sprung auf die Strasse, will den Fahrer damit zum Aufpassen zwingen, ein Hampelmann ohne Publikum. Knirschende Bremsen und entnervtes Hupen sind die Antwort. Zurück auf dem Gehsteig streckt er die Arme wie eine Barrikade waagrecht aus. Die Gruppe erstarrt. Die Kindergärtnerin beobachtet ihn ratlos. Sie murmelt ein steifes Dankeschön, so überflüssig wie die Schutzaktion dieses Unbekannten. Die Kinder haben nicht verstanden, was vor sich ging. Er lächelt ihnen zu, grüsst mit einem Kopfnicken und entfernt sich rasch. Angst hat ihn überfallen.
Er kehrt zum Gewächshaus zurück, wo zwei Kollegen unverdrossen Narzissen, Hyazinthen und Tulpen mit einem Düngemittel für Blumenzwiebeln besprühen. Sie werden von drei rauchenden Angestellten des weit ausserhalb der Stadt gelegenen Blumenateliers auf Trab gehalten, die, ihre Schiebermütze im Nacken, widersprüchliche Anordnungen von sich geben. Innovation steht gegen Tradition, selbst auf diesem Nebenschauplatz des Verderbens. Teils wird verbissen für künstlichen Humus geworben, teils vehement für Blähton oder ökologisch verbrämte Jauche gekämpft. Er hat noch nie Stellung bezogen, liest keine Aufkleber. Er braucht, was ihm zur Verfügung steht, Befehle hinterfragt er nie. Latein ist ihm in Sprache und Denken fremd. Seine Grosseltern väterlicherseits haben ihm die Demut mit der Heugabel beigebracht, das ist ihm geblieben.
Die laufende Woche steht ganz im Zeichen der Unkrautvertilgung. Um zu verhindern, dass sie sich unnötig in die Länge zieht, raufen sich die Angestellten für einmal zusammen. Rot-weisse Absperrbänder werden gezogen, um mögliche Besucher umzuleiten. Dann schultern alle der Reihe nach den Giftbehälter und betätigen die Kolbenpumpe, während sie durch die Alleen ziehen. Auch er besprüht mit vom Gewicht des Tanks gebeugtem Rücken die Stauden mit Pilz- und Unkrautvertilger. Er kommt so durch Bereiche des Friedhofs, die er kaum kennt. Er spielt dabei mit den Namen, die auf den Grabsteinen stehen, studiert die Symbolik der eingravierten Wappen, versucht über Quervergleiche kurze Stammbäume aufzustellen, bewertet die Blumenarrangements seiner Kollegen.
Bei sich im 11. Stock angekommen bleibt er länger unter der Dusche als üblich. Gift in jeglicher Form macht ihm Angst. Ein falsch verwendeter Vertilger hatte die Unterarme seines Grossvaters verbrannt. Bei Wutanfällen drohte der Alte, ihm das Gesicht mit einem Strahl Gift aus dem im Heuschober aufbewahrten Kanister zu verätzen. Er wäre dazu fähig gewesen. Einem Hund war es bereits widerfahren. Qualvoll starb er an der Kette.
Mitten in der Nacht steht er auf, ohne zu wissen warum. Wahrscheinlich weint irgendwo im Gebäude ein neugeborenes Kind. Ein Geräusch, das er jetzt wieder intensiver wahrnimmt. Verschwommene Kindheitserinnerungen. Vor dem Unfall, vor dem Exil auf dem Bauernhof, lange vor der Pflegefamilie. Er öffnet einen Spaltbreit die Tür seines Appartements, macht einen Schritt auf den eiskalten Flur hinaus. Lange Minuten verstreichen, bis die abgeschlafften Eltern intervenieren. Endlich hört das Wimmern auf. Die Einsamkeit nagt an ihm wie ein wiedergefundenes Gefühl.
Die Tannenkruzifixe, die frühestens acht Monate nach der Bestattung durch ein dauerhaftes Grabmal ersetzt werden, türmen sich in der Ecke des Schuppens. Am letzten Märzvormittag nimmt er sich vor, das dubiose Gemenge zu beseitigen. Gegenüber dem öffentlichen Parkplatz, einer Stelle, wo Pflanzen und Abfall gelagert werden, entfacht er ein Feuer aus trockenen Ästen, auf das er, eines nach dem anderen, die fragilen Kreuze legt. Die Flammen fressen sich in die Inschriften, die kleinen, schwarzen Zahlen verbiegen sich, verschmelzen, lösen sich auf. Ein süsslicher Geruch entweicht.
Aus der Distanz beobachten ihn misstrauisch einige Kollegen. Was er tut, ist gewagt, aber nicht wirklich strafbar. Sie werden sich keinen Kommentar erlauben. Sie wissen nicht, dass er die drei besten Kruzifixe verschont und hinter der Schneefräse versteckt hat. Noch diese Woche wird er sie abschmirgeln, lackieren und dort, wo eine Lücke klafft, wiedereinsetzen. Sein Gebiet wird dadurch einheitlicher und ausgewogener. Denn die Gräber hier offenbaren Ungleichheiten, die der Tod noch verstärkt hat. Natürlich können mittellose Eltern ihre Verstorbenen mit Blumen, Tand und Tränen bedecken, ihre Ruhestätten werden aber immer glanzloser bleiben als die der anderen.
Nur wenige französische Vornamen zieren die schmalen, verwitterten Tafeln, die wie abgezehrte Vogelscheuchen demnächst aus dem Leim und ins Gras fallen werden. Oft reinigt er diese stummen Wahrzeichen, versucht zu verstehen, warum die Erinnerung hier ein derart stiefmütterliches Dasein fristet. Und auf den übrigen Gräbern Reue, Vergebung und Bedauern so kraftvollen Ausdruck finden. Wer weiss denn schon, dass unter einem verdreckten Flickenmantel vergessene Kinder schlummern?
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