Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt. Thomas P Fenner

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Название Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt
Автор произведения Thomas P Fenner
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199044



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1905 und 1938 war von starken Konjunkturschwankungen geprägt. Nachdem die Nachfrage nach Kondensmilch und Schokolade im Ersten Weltkrieg stark zugenommen hatte, brach der Absatz der beiden Produkte zwischen 1921 und 1923 stark ein, erholte sich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre aber wieder, bevor er sich mit der Weltwirtschaftskrise abermals verschlechterte. Gut zu erkennen ist dabei, dass die Nestlé & Anglo-Swiss bis 1913 fast nur gezuckerte Kondensmilch verkaufte, die ungezuckerte Kondensmilch aber seit Kriegsbeginn immer bedeutender wurde und Ende der 1930er-Jahre die Hälfte des Kondensmilchumsatzes ausmachte. Ebenso wurde in der Zwischenkriegszeit ein immer grösserer Teil des Schokoladeabsatzes durch assoziierte Gesellschaften (Lamont, Corliss & Co. und Sarotti) erzielt. Insgesamt stieg der Umsatz der Nestlé & Anglo-Swiss in der Zwischenkriegszeit, aber vor allem auf den Gebieten der Schokolade und der ungezuckerten Kondensmilch, auf denen sich keine grossen Gewinne erzielen liessen.

      Wie Verwaltungsratspräsident Louis Dapples an der Generalversammlung 1936 festhielt, waren die Gewinnmargen auf Massenprodukten wie Kondensmilch und Schokolade in der Zwischenkriegszeit stark geschrumpft. Zwar stellten diese Produkte nach wie vor das wichtigste Standbein des Unternehmens dar, ihr Ertrag konnte allerdings nur noch damit gesteigert beziehungsweise erhalten werden, indem das Verkaufsvolumen ausgeweitet wurde. «Gerade mit Rücksicht auf den Umstand, dass die Gesellschaft bei der Massenproduktion mit ganz kleinem Nutzen arbeiten muss, zwingt sie zum Ausfindigmachen von neuen Spezialitäten, die ihr jedoch nicht ohne Weiteres in den Schoss fallen, sondern wiederum bedeutende Forschungskosten verursachen»,288 schrieb die «Schweizerische Handelszeitung» 1936 weiter.

      Angefangen hatten diese Forschungsaktivitäten in den Jahren 1921/22, als im Zuge der Reorganisation des Unternehmens die bisher getrennten Forschungslaboratorien in Cham und Vevey zusammengeführt wurden und die Entwicklung neuer Produkte unter der Leitung des Norwegers Dr. Arnold Bakke erstmals systematisch vorangetrieben werden konnte.289 Die Markennamen dieser neuen Produkte-Generation wurden später oft mit dem Präfix Nes- und der Produktbezeichnung versehen, um die verwandtschaftliche Bindung mit der Nestlé-Gruppe erkennbar zu machen.290

      Eine der vordringlichsten Aufgaben der Forschung war damals, auf dem Gebiet der Kindernahrung neue Produkte zu entwickeln, denn seit 1915 waren die Verkaufszahlen von Nestlé’s Kindermehl in den Vereinigten Staaten rückläufig gewesen. Konnte der anfängliche Nachfragerückgang noch mit Preisanpassungen begründet werden, hatte der danach folgende, langsame Absatzschwund tiefere Ursachen: Das Produkt genügte den damaligen Anforderungen an ein Kindernahrungsmittel nicht mehr,291 weil es die Nestlé & Anglo-Swiss verpasst hatte, der Tendenz zu Milchpulververfahren frühzeitig zu folgen.292

      Wurde Milchpulver in der Schweiz zuerst vor allem zur Herstellung von Milchschokolade verwendet,293 begannen später auch immer mehr Kindernahrungsmittel-Unternehmen wie Guigoz schonende Dehydratationsverfahren bei tiefen Temperaturen zu entwickeln, dank denen die Proteine wesentlich besser erhalten blieben und die Oxidation von Vitamin C vermieden werden konnte. Damit kamen kurz vor dem Ersten Weltkrieg neue Kindernahrungsmittel auf den Markt, welche lange haltbar und trotzdem mit Proteinen und Vitaminen angereichert waren.294 Nestlé sah sich deshalb gezwungen, ihr Kindermehl durch die Beigabe von Vitaminen den ernährungswissenschaftlichen Erwartungen an ein Kindernahrungsmittel anzupassen.

      1929 gelang es den Forschern von Nestlé schliesslich, Nestlé’s Kindermehl dank einem Dorschleberöl-Konzentrat295 mit den Vitaminen A und D anzureichern, welche das Wachstum und die Widerstandsfähigkeit sowie den Knochenaufbau der Säuglinge verbessern sollten. Trotzdem blieb das Kindermehl in den 1930er-Jahren weiterhin in der Kritik der Ärzte, weil durch das Erhitzen der Milch nicht nur krankmachende Keime, sondern auch wichtige Bestandteile wie die Vitamine C und B1 wesentlich reduziert wurden. Deshalb mischte Nestlé dem Kindernahrungsmittel schliesslich ebenfalls Vitamin B1 bei.296 Bei dieser Verbesserung sowie der Entwicklung weiterer diätetischer Produkte wie Pelargon, Nestrovit, Nesviton und Nestamin arbeitete Nestlé eng mit Kinderärzten und medizinischen Autoritäten sowie der Schweizer Pharmaindustrie zusammen.297

      Ab 1921 begann sich Nestlé aber auch intensiv mit der Herstellung von Kindernahrungsmitteln auf der Basis von Milchpulver298 zu beschäftigen. Im Zentrum standen dabei zwei Verfahren, welche Nestlé durch die Akquisition der australischen The Baccus March Concentrated Milk Company sowie der norwegischen Firma Egron aus Christiania erworben hatte. Denn Milchpulver hatte gegenüber Kondensmilch und Kindermehl den entscheidenden Vorteil, dass sich die Dosierung einfacher gestaltete.299

      Nestlés erste Schritte mit Milchpulver und pulverisierter Kindernahrung

      Nestlés erstes Kindernahrungsmittel auf der Basis von Milchpulver wurde 1921 unter der Marke Lactogen vertrieben, welche durch die Übernahme der australischen The Baccus March Concentrated Milk Company zum Unternehmen gestossen war. Das speziell für Kleinkinder präparierte Milchpulver, dessen Zusammensetzung der Muttermilch angenähert worden war, wurde damals auf dem Prinzip der Walzentrocknung hergestellt, welches auch zur Herstellung von Milchschokolade verwendet wurde.300 Nestlé verkaufte und bewarb Lactogen vor allem in den tropischen Gebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.301 In Europa dagegen wurde die australische Pulvernahrung für Kinder nicht allzu stark vermarktet, weil dies negative Vorurteile gegenüber der gezuckerten Kondensmilch hätte hervorrufen können, die damals die wichtigste ökonomische Stütze des Unternehmens war.302

      Parallel dazu bot die Nestlé & Anglo-Swiss von Norwegen aus das Milchpulver Molico an, welches explizit nicht als Kindernahrung verkauft wurde, sondern zur Zubereitung von Kaffee, Tee und Kakao sowie zur Herstellung von Milchglacen empfohlen wurde.303 Anders als Nestlés bisherige Verfahren beruhte die Milchtrocknung von Molico nicht auf der Vakuum- oder Walzentrocknung, sondern auf einem Sprühtrocknungsverfahren, welches sich das Schweizer Unternehmen 1916 mit der Übernahme der Firma Egron erworben hatte.304 Mit dem Egron-Sprühtrocknungsverfahren, welches um 1910 von den beiden Norwegern Gustav Jebsen und Christian Finckenhagen entwickelt worden war, konnte im Gegensatz zu anderen Milchtrocknungsmethoden eine Verklumpung der Milchtröpfchen verhindert werden, indem der zerstäubten, noch flüssigen Milch ein Strahl von sehr heisser, komprimierter Luft entgegengesetzt wurde und die Milch somit augenblicklich trocken war.305 Das Verfahren hatte den entscheidenden Vorteil, dass die Trocknung so schnell stattfand, dass keine chemischen Reaktionen auftraten, welche den Geschmack verändert hätten. Ausserdem wurde die Trockenmilch durch die schnelle Trocknung wesentlich länger haltbar.306

      1925 patentierte Nestlé deshalb neben Lactogen ein auf der Egron-Sprühtrocknung basierendes Kindermilchpulver unter der Marke Nestogen. Allerdings verhielt sich die Unternehmensführung auch bei diesem Kindernahrungsmittel sehr zögerlich bei der Einführung, weil sie Nestogen als ernsthafte Konkurrenz für die gezuckerte Kondensmilch betrachtete.307 Erst als die Nestlé & Anglo-Swiss während der Weltwirtschaftskrise ihre dominante Stellung auf dem britischen Kondensmilchmarkt verlor,308 wurde Nestogen 1930 schliesslich als neues Kindernahrungsmittel auf den Markt gebracht.309 Ebenso entschied sich Nestlé erst 1931 zur weltweiten Lancierung des sprühgetrockneten Milchpulvers Molico, um dem schleichenden Wechsel von Kondensmilch zu Milchpulver Rechnung zu tragen.310 Allerdings blieb Nestogen der sofortige Durchbruch verwehrt: Zu viele Milchpulver existierten bereits auf dem Markt. Um das Produkt von anderen abzuheben, mischte Nestlé ihm 1932 zusätzliche Kohlenhydrate in Form von Dextrin, Maltose und Saccharose bei, welche damals von Schweizer und deutschen Kinderärzten empfohlen wurden. Erst dadurch konnte sich Nestogen schliesslich durchsetzen.311

      Parallel zu Molico und Nestogen beabsichtigte Louis Dapples, mit Hilfe der Egron-Sprühtrocknung weitere Produkte in Pulverform herzustellen.312 Bereits in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre versuchte Nestlé in ihren Forschungslaboren auch Milkmaid Café au lait als Pulvergetränk aufzuwerten,313 welches zusammen mit dem Kakaogetränk Nescao unter der Marke Nescafé