moralisch defekt. Lisbeth Herger

Читать онлайн.
Название moralisch defekt
Автор произведения Lisbeth Herger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039199549



Скачать книгу

Zudem werden die Wiederholungen ihrer Taten als Ausdruck verminderter Denkkraft gelesen und nicht etwa als Folge von Mundraub, bei dem das Diebesgut sozusagen aus der Hand in den Mund verschwindet und Nachschub erzwingt. Dass Pauline auf ihrer Flucht Namen und Zivilstand verschweigt, wird nicht nur als Delikt geahndet, sondern auch moralisch geächtet, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich mit ihrem Verhalten ja nur in der Logik des geltenden Rechts bewegt, das für verheiratete Frauen bei Erwerbstätigkeit eine Zustimmung des Ehemannes verlangt. Und das Mitnehmen ihres Babys auf der ersten Flucht, dessen Platzierung in einer Krippe werden nicht als Ausdruck verzweifelter Mutterliebe anerkannt, sondern in die Nähe einer Kindesentführung gerückt:«Den Knaben Jakob brachte sie heimlich fort. […] Schmid musste das Kind polizeilich suchen lassen, es befand sich in einem Kinderheim in Zürich. Die dort aufgelaufene Rechnung musste er bezahlen.»

      Am eindrücklichsten zeigen sich patriarchale Deutungsmuster im Umgang mit häuslicher Gewalt. Pauline führt ihren schlagenden Mann nicht nur als Ursache für den erlittenen Abort an, sondern überhaupt als Grund ihrer Straftaten: «Während der Schwangerschaft habe der Mann sie stets geschlagen, darum habe sie gedacht, sie könnte seine Gunst mit Lügenmärchen zurückgewinnen.» Auch für ihre hilflose Fälschung des Pachtvertrags, der die Rückkehr auf den früheren Hof ermöglichen sollte, oder für ihr Prahlen mit einem Kassenbüchlein mit ein paar angesparten Tausendern nennt die Angeklagte die Gewalt des Mannes und ihre Hoffnung auf Versöhnung als Tatmotive. «Sie habe ihn lieb gehabt und wollte ihn nicht verlieren, und wenn er so grob mit ihr war, so müsste sie etwas erfinden, um ihn zu versöhnen», erzählt sie, oder dass sie dachte, «mit dem kann ich den Mann halten, wenn er so bös mit mir war». Ihre Reden finden kein Gehör, die Ärzte klagen im Gutachten über die «ermüdende Eintönigkeit» dieser «unzureichenden Erklärungen». Damit argumentieren sie im Gleichklang mit dem damaligen Zeitgeist. Ein schlagender Mann war weder Bedrohung, noch galt sein Tun als Verletzung der körperlichen Integrität, vielmehr stand er für die natürliche männliche Autorität, der sich die Frau zu unterwerfen und zu fügen hatte.

      Ein Blick in die Rechtsprechung bestätigt diese patriarchale Akzeptanz häuslicher Gewalt. Eindrückliche Illustrationen dazu finden sich in einer Untersuchung zu Luzerner Scheidungsurteilen in den 1940er-Jahren.6 Grundsätzlich war die «schwere Misshandlung» als Scheidungsgrund zwar anerkannt, seit 1912 verankert im Zivilgesetzbuch (ZGB) in Art. 138. Doch in der Gerichtspraxis änderte dies wenig. Nur gerade 6 von den insgesamt 89 Frauen der Untersuchung waren erfolgreich, als sie sich in ihrer Scheidungsklage auf den Artikel beriefen. Die patriarchalen Fallstricke im Netzwerk von Artikeln und justiziablen Argumenten waren zu dicht ausgelegt. Im Recht wurde die schwere Misshandlung gar nicht erst weiter definiert, diese Interpretation überliess man den Richtern. Diese aber legten den Tatbestand generös aus, Schläge, Tritte und Stösse gehörten nicht dazu. Die Forderung der Frauen, die Tatbestände klarer zu fassen, blieb chancenlos, Parlament und Bundesrat vertrauten darin der geschlossenen Gesellschaft männlicher Richter und Rechtsgelehrter. Auch das damals geltende Eherecht bot keine Hilfe für gewaltbedrohte Frauen. Der Mann war als Oberhaupt der Gemeinschaft eingesetzt; wie diese Vormacht ausgestaltet und durchgesetzt werden sollte, entschieden die Männer selbst. Im Wissen um ein in der Alltagspraxis verankertes Züchtigungsrecht – gegenüber den Kindern, aber auch der Ehefrau –, das ihnen den Rücken stärkte. Im Gerichtssaal wurde dieses Deutungsmuster klassenspezifisch weiter verfeinert. Von einem Mann aus dem Mittelstand erwartete man bei Konflikten auch die Kraft des Wortes, also verbale Potenz, in der Unterschicht jedoch galt physische Gewalt als natürlich und standesgemäss und wurde akzeptiert. Dies führte sogar dazu, dass Klagen betroffener Unterschichtsfrauen, die «rohe Gewalt» gemäss Art. 138 des ZGB als Scheidungsgrund anführten, bis in die 1940er-Jahre überhaupt gar nicht zugelassen wurden. Eine Rechtsauslegung, die übrigens in Kommentaren renommierter Vertreter der Gerechtigkeit auch in den 1950er-Jahren noch Unterstützung fand. Und so ist es nicht erstaunlich, dass damals kaum eine gewaltbetroffene Frau mit ihrer Scheidung erfolgreich war. Denn von den untersuchten Fällen prozessierten über achtzig Prozent im Armenrecht, die Klägerinnen gehörten also zu jenen Frauen, die ihre Prügel standesgemäss sowieso verdienten.

      Die juristischen Feinheiten zum Schutz der ehelichen Gewalt gingen aber noch weiter. Grundsätzlich galt Gewalt im Privatraum als eine juristisch zweitrangige Sache. Misshandlungen in der Ehe waren nur dann einklagbar, wenn sie sich sichtbar «vor Dritten ereigneten». Das Hören von Schreien aus der Nachbarwohnung allein etwa reichte als Beweis nicht aus. Die Beweislast war erdrückend einseitig verteilt. Ausserdem erlosch das Klagerecht bei versöhnlichem Verzeihen nach Ablauf von sechs Monaten. Eine Regelung, die dem bekannten Gewaltzyklus mit seiner Spiralbewegung von Gewalt und Versöhnung bequem in die schlagenden Hände spielte. Es brauchte ein weiteres halbes Jahrhundert, bis zornige Feministinnen die unbequeme Frage in die Politik holten und zur öffentlichen Sache erklärten. Und schliesslich auch hierzulande die Anerkennung der häuslichen Gewalt als Straftat erstritten, und zwar als eine, die von Staates wegen verfolgt werden muss. Umgekehrt ging man übrigens mit der Aggressivität von Frauen ganz anders zu Gericht. Auch das belegen die erforschten Scheidungsurteile. Zeigten Frauen Widerstand, wurden sie schnell wegen ihres «zügellosen Mundwerks» geächtet, als streitsüchtig und rechthaberisch abqualifiziert. Alles charakterliche Mängel, die ihnen im Urteil eine Mitschuld an der Zerrüttung der Ehe bescherten. Mit beachtlichen Konsequenzen, denn schon eine Mitschuld seitens der Frau entband den Mann von jeglichen Unterstützungsleistungen.

      Aggressionen waren also für Frauen tabu, bei Männern dagegen als Disziplinierungsmethode gegenüber Frauen akzeptiert. Armin Schmid gesteht, dass er Pauline geschlagen hat, doch dies bleibt ohne Folgen, schliesslich hat er nur dann zugeschlagen, «wenn sie gegen ihn in heftigster Weise aggressiv geworden sei». Er, der Mann und Kläger, wird in seiner Integrität nie angezweifelt, bleibt im Gutachten durchgehend unangetastet und zweifelsfrei gut. Die Ärzte stützen sich dabei auf seinen Ruf. «Schmid selber soll vor seiner zweiten Heirat einen guten Ruf gehabt und zu keinen Klagen Anlass gegeben haben», betonen sie. Dagegen wird die von ihm beklagte Aggressivität seiner Frau unter ein diagnostisches Vergrösserungsglas gerückt. Seine Schilderungen werden in der Rezeption der Ärzte emotional zusätzlich angereichert, etwa wenn ein singulärer Vorfall im Gutachten in ein allgemeines, sich wiederholendes Verhalten Paulines umgewandelt wird: «Wenn sie mit dem Mann eine Auseinandersetzung hatte, sprang sie ihm an den Hals, zerriss ihm die Kleider oder legte mit dem Ordonnanzgewehr auf ihn an. War sie wütend und wollte ihn strafen, so lief sie einfach davon, drohte, mit dem Kinde zusammen sich das Leben zu nehmen, oder brachte es fort, so dass der Mann es nicht finden konnte.» Pauline, die Flüchtende, die sich gegen Gewalt wehrt, wird ihrerseits zu einer aggressiven Furie. Diese Verstärkung von Paulines Emotionalität in der ärztlichen Wahrnehmung dient letztendlich diagnostischen Zwecken. Es geht um den Nachweis einer «affektiven Unbeherrschtheit», wie sie die Psychiater auch bei der Wiederbegegnung zwischen Pauline und ihrem Mann zu beobachten meinen: «Bei einem Besuch empfängt sie ihn mit Vorwürfen: warum er ihr den Mantel, die Konfitüre, die Finken und vieles andere nicht mitgebracht habe?», notieren die Klinikärzte, obwohl gerade sie wissen müssten, wie karg die Patientinnen und Patienten der dritten Klasse in diesen Kriegswintertagen in der täglichen Kost und im wärmenden Komfort gehalten werden. Auch Paulines Verzweiflung über die Fremdplatzierung ihres Sohnes im fernen Tessin findet kein Verständnis bei den Ärzten, wird einzig ihren unbeherrschten Trieben zugeschlagen: «Wie er dazu komme, ohne ihr Wissen das Kind zu versorgen, warum sie als Mutter nicht gefragt werde? […] Frau Schmid wird immer heftiger. Sie habe allein das Recht, über das Kind zu verfügen, niemand dürfe es ihr wegnehmen, sie sei die Mutter. Sie weint heftig und überschüttet ihn mit Vorwürfen.» Und selbst ihre Weigerung, sich auf die etwas gar einfachen Appelle ihres Mannes einzulassen, nämlich «in sich zu gehen und sich zu bessern» und «ein neuer Mensch zu werden», wird – mit missbilligendem Unterton – als Krankheitssymptom gewertet: «Frau Schmid reagiert nicht darauf, sie verlangt, dass er ihr Butter mitbringe, weint und ist beleidigt.»

      Der moralische Defekt

      So formen die Ärzte ihre Beobachtungen zu Symptomen und Diagnosen. Das Gutachten spricht von «Trotz, Reizbarkeit, Neigung zu Affektausbrüchen und Launenhaftigkeit» und erkennt darin dieselben Schwächen, die Pauline bereits zu ihren Straftaten antrieben: «Erregt irgend etwas ihre Wünsche, so konnte sie sich nicht beherrschen. Sie wusste sich immer wieder Geld und Waren