Einleitung in das Neue Testament. Hans-Ulrich Weidemann

Читать онлайн.
Название Einleitung in das Neue Testament
Автор произведения Hans-Ulrich Weidemann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063153



Скачать книгу

kommt der Forschung aus mehreren Gründen immer mehr abhanden. Das hängt zum einen mit den großen Differenzen der Ergebnisse solcher Scheidungsversuche, zum anderen mit der Hoffnung zusammen, die synchronische Betrachtung des Textes werde einhelligere Ergebnisse liefern als die diachronische. In letzterer Hinsicht darf man sehr gespannt sein. Aber auch das Verhältnis des Autors zur mündlichen Tradition wird in der neueren Literatur anders beurteilt als zu Zeiten der klassischen Formgeschichte. Die mündlichen Erzählungen werden bei weitem nicht mehr als so fest in ihrer Form angesehen wie damals und dementsprechend die sprachliche Formung durch den Evangelisten weit höher angesetzt. Ob dem nicht unsere Überlegungen über das Mitschleifen der Übersetzungen hebräisch-aramäischer Termini widersprechen, wird weiter zu prüfen sein.

      Die Sprache des Evangelisten spiegelt zwar einen gewissen semitischen Einfluss, aber dieser geht nicht so weit, dass man daraus mit Sicherheit auf einen Judenchristen als Autor schließen könnte.

      Hauptintention: die Christologie

      Die primäre Aussageabsicht des markinischen Werkes ist christologisch, so dass die Abschreiber, die schon früh dem Initium „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (1,1) die Ergänzung „dem Sohne Gottes“ anfügten, durchaus in der Linie der markinischen Absichten blieben, wenn der Titel im Initium nicht ursprünglich sein sollte. Es geht um ein zutreffendes Verständnis Jesu, von dem Markus an markanten Stellen seines Werkes als Sohn Gottes spricht, dessen Bedeutung aber allein mit diesem Titel keineswegs schon zutreffend und umfassend umschrieben ist.

      Sohn Gottes

      Selbst der Titel „Sohn Gottes“ allein ist noch missverständlich, da dieser nach Ausweis der von Markus übernommenen Traditionen schon in der Kirche des ersten Jahrhunderts unterschiedlich verstanden wurde. Dieser und andere Titel konnten in der Tradition mit Wundergeschichten verbunden werden, die Jesu Würde als Gottessohn oder Davidssohn / Messias zum Ausdruck bringen. Dieses Verständnis lehnt Markus nicht ab, aber er hält es für außerordentlich missverständlich und ergänzungsbedürftig, weswegen er dieser ► theologia gloriae eine weitere Dimension hinzufügt, die des niedrigen und notwendig ins Leiden gehenden Jesus.

      Der Jesus der Wunder und der Jesus des Leidens gehören für den Evangelisten untrennbar zusammen. Eine einseitige Betonung nur einer dieser zwei Seiten wird dem Jesusereignis nach Ansicht des Markus nicht gerecht. Zu einem angemessenen Verständnis Jesu gehört dessen ganzes Schicksal.

      Wie nicht nur ein Titel genügt, um den Glauben an Jesus zutreffend zum Ausdruck zu bringen, und Jesus deshalb in allen Evangelien, nicht nur bei Markus, eine ganze Reihe von Heilbringertiteln erhält, so können diese Titel unterschiedliche Inhalte umfassen, die nach Markus beim Titel Gottessohn zusammengehören und nicht getrennt werden dürfen.

      11.1 Das Messiasgeheimnis

      Bekenntnis vs. Schweigegebote

      Um freilich sein genaues Verständnis dieses Jesus deutlich zu machen, ist Markus Wege gegangen, die bis heute für uns nicht ganz durchschaubar sind. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts spricht man über das von W. Wrede so genannte „Messiasgeheimnis im Markusevangelium“, womit der auffällige Widerspruch zwischen offenem Bekenntnis der messianischen Würde Jesu z. B. durch die Dämonen und das sich anschließende Schweigegebot von Seiten Jesu oder der Zusammenhang zwischen Jüngerbekenntnis und Schweigegebot in Mk 8,27–33 gemeint sind.

      Eine theologische Konstruktion

      Dass es sich hierbei um eine Konstruktion und nicht um die exakte Wiedergabe einer historischen Einzelheit handelt, wird schon bei der Perikope vom Töchterlein des Jairus deutlich, wo zunächst der Tod des Mädchens sozusagen vom ganzen Dorf beklagt und im Anschluss an die Totenerweckung von Jesus die Weisung erteilt wird, niemandem etwas davon zu erzählen (Mk 5,22–24.35–43).

      Die Komponenten des Messiasgeheimnisses

      Im einzelnen sind im Zusammenhang mit dem Messiasgeheimnis folgende Komplexe zu unterscheiden:

      (a) das Verbot bei manchen Wundergeschichten, das Wunder weiter zu erzählen (5,43;7,36) – dazu gehört auch, dass dieses Verbot z. T. übertreten wird, vgl. 7,36 und 1,44 f.,

      (b) das Wissen der Dämonen um Jesu besondere Würde und der dazu gehörige Schweigebefehl (1,25.34;3,12),

      (c) Das Wissen der Jünger um die besondere Würde Jesu und das Schweigegebot (8,27–30;9,9) einerseits, das Unverständnis der Jünger gegenüber den Worten Jesu andererseits (4,13; 8,14–21),

      (d) Die Parabeltheorie (4,10–12, siehe dazu 11.2)

      11.1.1 Das Wissen um die besondere Würde Jesu und die Schweigegebote

      Die ersten drei Komplexe kommen darin überein, dass die Verbreitung entweder eines christologischen Hoheitstitels, der von den Dämonen (5,43;7,36) oder den Jüngern (8,27–29) zur Sprache gebracht wird oder auf andere Weise bekannt wird (9,2–9), oder dass die Verbreitung eines von Jesus vollbrachten Wunders untersagt wird.

      Funktion der Schweigegebote

      Die literarische Funktion dieser Konstruktion kommt in ihrem künstlichen, eher für schriftliche als für mündliche Literatur bezeichnenden Charakter zum Ausdruck: Die Verbreitung des Wunders wird verboten, aber das Wunder und das entsprechende Verbot werden erst einmal erzählt.

      Grenze der Schweigegebote

      Auf der Ebene des Markus ist dieser Widerspruch kein Problem, weil er in 9,9 Tod und Auferstehung Jesu als Grenze für das Schweigegebot bezeichnet hat – danach darf offen darüber gesprochen werden!

      Wunder und Leiden

      Nimmt man Mk 9,9 zusammen mit dem Bekenntnis des unbekannten Hauptmannes unter dem Kreuz, der ausgerechnet angesichts des Todes Jesu zu der Erkenntnis kommt, dass der soeben Verstorbene kein normaler Mensch, sondern ein Gottessohn war (Mk 15,39), und zieht dann auch noch mit in die Betrachtung ein, dass Markus gleich drei Leidensweissagungen in seinem Werk bietet (8,30–33;9,31;10,32–34), dann wird deutlich, dass Markus unbeschadet der Frage, welche Teile des ganzen Komplexes er schon in seiner Tradition vorfand und welche er selbst geschaffen hat, bewusst die Wundergeschichten und die Perikopen um die Hoheitstitel überliefert, dass er diese aber mit Hilfe des Schweigegebots mit dem Leiden Jesu zusammengebunden hat. Zu Jesus gehören die Wunder und das Leiden, weil er der Messias und der leidende Menschensohn zugleich ist.

      Die Vermutung, die Gemeinde des Markus habe in der häretischen Gefahr gestanden, Jesus ausschließlich von der Wunder- und Hoheitsseite zu sehen, geht sicher viel zu weit, aber Markus hat nach Ausweis seines Werkes – vgl. vor allem die Abfolge von 8,27–30 und 31–33! – beide Seiten in Jesu Person zusammenbinden wollen.

      Nach Markus ist der Jesus der Wunder nicht ohne das Leiden, und der Jesus des Leidens nicht ohne die Wunder zu haben. Beide Aussagereihen, Wunder und Kreuz, dürfen für ein im Sinne des Markus zutreffendes Verständnis von Person und Werk Jesu auf keinen Fall voneinander getrennt werden.

      Das Schweigen der Frauen

      Dass das Verbot, die Wunder weiter zu erzählen, nach dem Evangelium nicht gehalten wird, hat seinen Gegenpart in dem das Markusevangelium beendenden Schweigen der Frauen nach ihrer Flucht aus dem leeren Grab, hier nun gegen den ausdrücklichen Engelbefehl an sie, Petrus und die Jünger von der Auferweckung Jesu und von seinem Vorausgehen nach Galiläa zu unterrichten.

      Wie dort entgegen dem Befehl Jesu das Wunder nicht verschwiegen, sondern öffentlich verkündigt wird, so vermag auch hier die menschliche Unzulänglichkeit der Frauen das Offenbarwerden der Auferstehung nicht zu verhindern. Die Botschaft von Jesus, von seinen Wundern und von seiner Auferstehung, setzt sich durch, auch gegen alle menschliche Unzulänglichkeit. Wie Jesu Wunder nicht verborgen bleiben konnten, so auch seine Auferstehung nicht. Obwohl die Frauen nichts erzählt haben, ist die Auffindung des leeren Grabes dennoch bekannt, und Markus kann sie erzählen.

      Dass Markus mit 16,8 zum Ausdruck bringen wolle, die Jünger seien nie von der Auferstehung in Kenntnis gesetzt worden, und mit Hilfe dieser „Nachricht“ seinen Wunsch, „die Aufmerksamkeit vom