Tiepolos Geheimnis. Jo Kilian

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Название Tiepolos Geheimnis
Автор произведения Jo Kilian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783429063672



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schließen lassen – die Musik. Statt martialischer Töne, die die Krieger in die Schlacht begleiteten, spielte das kleine Orchester zu Tanz, Jubel und Heiterkeit auf.

      „Heyja! Lauf!“, skandierte es hinter Lorenzo und der Comtesse, gefolgt vom hellen Surren der Peitsche und dem Schnauben des Pferdes. Der Schlittenführer musste ein Soldat sein, gemessen an der resoluten Stimme.

      „Gefällt es dir?“, hörte Lorenzo an seinem Ohr.

      Ein entschiedenes Nicken, nicht aus Zwang, sondern aus Überzeugung. War das ein Abenteuer! Er befand sich mit einer leibhaften Comtesse in einem Schlitten, ach, in einem wunderbaren Streitwagen. Davor und dahinter weitere, furchteinflößende Pferdegespanne, denen man besser nicht in die Quere kam. Denn selbst die Pferde waren nicht einfach nur harmlose Rösser, sie waren mit Büschen, Bändern und anderem Zierrat geschmückt, sodass man sie als Bären, Löwen, Adler und Schwäne deuten konnte. Welch eine Pracht! Er hatte nichts Vergleichbares je erlebt – selbst in der Hochburg des Karnevals nicht, in Venedig. Denn dort war er nur der Sohn eines Handwerkers, hier aber der Protegé einer wahrhaften Comtesse.

      Vorbei am Residenzgarten und einer Kirche tauchten kleine Lichter aus dem Dunkeln auf, die neugierige Bürger erwartungsvoll vor sich hielten.

      „Greif nach vorne in den Korb“, drang es an Lorenzos Ohr, und er folgte widerspruchslos. Als Erstes fand er den heißen Stein, der die Füße wärmte, dann den Korb, darin Konfekt und Obst.

      „Was soll ich damit?“, fragte er.

      „Werfen natürlich.“

      „Werfen? Warum?“

      Die Comtesse nahm es ihm aus der Hand, gab dem Lenker ein Zeichen, die Peitsche surrte und der Schlitten schloss zum vorderen auf. Dann geschah Undenkbares. Die Comtesse bewarf den türkischen Pascha mit süßem Konfekt.

      „Graf Falkenberg, was seid Ihr nur für eine lahme Ente“, nicht bösartig, nein, sie lachte und machte ungebührliche Gesten, dass man meinen konnte, eine liederliche Dirne habe sich unter die hohen Herrschaften geschlichen. Und der Pascha quittierte die Unverschämtheit nicht etwa mit dem krummen Türkensäbel, er tat das Gleiche. Konfekt und Obst waren auch seine Munition, es flog Lorenzo um die Ohren wie Kanonenkugeln.

      „Schneller!“ Die Peitsche gehorchte und der nächste Schlitten wurde ihr Ziel. „Mehr!“, ermutigte sie Lorenzo, „gib mir mehr“, und er reichte ihr Konfekt und Obst wie zuvor.

      Nun hatten sie es mit einem anderen Gegner zu tun. Die Comtesse grüßte nicht mit Schmähungen, sondern mit fragwürdigen Liebkosungen.

      „Liebster Gatte“, schnurrte sie, „wollt Ihr den Kampf mit mir wagen?“

      Der Comte, im Kostüm eines römischen Feldherrn, war nicht gewillt. Lustlos winkte er ab, nahm stattdessen einen Schluck Wein, was die Comtesse anstachelte.

      „Fehlt Euch etwa der Mut? Hier, nehmt das!“, und eine Handvoll Konfekt flog ihm um die Ohren.

      „Ihr macht Euch lächerlich“, kam es indigniert zurück.

      Sie stichelte weiter. „Verlogener Schlappschwanz!“

      Er quittierte es mit einem höhnischen Lächeln. „Liebreiz ist nicht Eure erste Tugend.“

      „Wenn Ihr ein richtiger Mann sein wollt“, keifte sie, „dann stellt Euch endlich! Oder habt Ihr Eure hochwohlgeborenen Hosen voll?“

      Jetzt lachte sie, so laut und entrückt, dass es Lorenzo ganz anders wurde. „Comtesse, wollt Ihr nicht jemand anderen wählen?“, er zeigte auf die Schlitten vor und hinter ihnen, aber auch die vielen am Wegesrand Stehenden, die das Konfekt und das Obst auflasen und in mitgebrachte Beutel steckten.

      Darunter befanden sich Kinder, die sich mit Schneebällen bewarfen. Und just einer dieser Schneebälle verirrte sich aus dem Getümmel in den festlichen Zug.

      War es Schicksal? Sicher ein verhängnisvolles Unglück, dass das Geschoss mitten im Gesicht des Comtes landete. Der ließ den Schlitten umgehend anhalten.

      „Bravo!“, applaudierte die Comtesse, „welch vorzüglicher Treffer.“ Auch sie ließ den Schlitten stoppen. Lorenzo sprang heraus, bot ihr die Hand an.

      Der Comte hielt sich das schmerzende Auge und forderte vom Schlittenführer die Peitsche. Dann stapfte er durch den Schnee auf die Unglücklichen zu. „Wer war das?!“

      Die Kinder wichen zurück, keines antwortete.

      „Ich frage nochmals: Wer von euch hat mich angegriffen?“ Die Comtesse schritt ein, versuchte ihn zu beruhigen. „Es war ein dummer Zufall, werter Gatte. Nichts weiter. Kommt, bevor wir die anderen verlieren.“

      Rückzug war für den Comte indiskutabel, Vergeltung für die erlittene Schmach erste Pflicht. „Ein letztes Mal!“, schrie er sie an, „komm hervor und ich will es bei einem Dutzend Peitschenhiebe belassen.“

      Das waren schlechte Aussichten für ein Geständnis, die ersten retteten sich in die Nacht. Einzig ein Junge und ein Mädchen schienen den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Sie bewarfen sich weiterhin mit Schnee, tollten herum wie junge Hunde.

      „Ihr da!“, befahl der Comte, „kommt her“, was die Ahnungslosen sofort taten. Vielleicht gab es eine extra Portion vom leckeren Konfekt.

      Lorenzo sah ihre freudestrahlenden Gesichter, die ein Stück dunkler und asketischer waren als die örtlichen. Ihre Kleidung passte ebenso wenig in diese Stadt, eher südländisch, es mussten Reisende sein, Händler oder …

      „Respektlose, gottlose Brut!“, schimpfte sie der Comte und deckte sie mit wuchtigen Peitschenhieben ein, auf dass sie zu Boden gingen und heulend um Gnade flehten.

      „Haltet ein“, ging ihm die Comtesse in den Arm, „Ihr züchtigt unschuldige Kinder.“

      „Niemand ist unschuldig“. Ein Stoß beförderte sie in den Schnee und weitere Hiebe fanden ihr Ziel auf den blutigen Rücken der Kinder. „Ich will euch lehren, einen Vornehmen von Stand und Ehre zu beleidigen.“

      Graf Falkenberg, der türkische Pascha, dessen Schlitten ebenfalls angehalten hatte, redete auf ihn ein. „Comte, genug, Ihr bringt sie noch um.“

      Eine dritte Vornehme kam hinzu, eine Aphrodite oder Helena in einem prächtigen Pelz. „Comte, beherrscht Euch“, aber es war vergebens.

      „Baronesse, bleibt Ihr bei Euren Liebschaften, ich aber will Gerechtigkeit walten lassen.“

      Lorenzo nahm all seinen Mut zusammen und warf sich dem Comte vor die Füße. „Gnädigster Herr und Fürst, zeigt Erbarmen. Sie wussten nicht, was sie taten.“

      „Das schützt sie vor Strafe nicht“, erwiderte der Comte. „Geh zur Seite, bevor auch du meine Peitsche zu spüren bekommst.“

      „Herr, ich flehe Euch an …“

      „Wie du willst.“ Die Peitsche erhob sich, da stachen eine Frau und ein Mann aus dem Dunkel hervor, sie nahm die Kinder schützend in die Arme, während der Mann zu begreifen versuchte, was hier vor sich ging.

      „Per amor del cielo! Che cosa è successo?“ Um Himmels Willen! Was ist geschehen?

      Also hatte Lorenzo recht behalten: Es waren Landsleute von ihm, allerdings sprach der Mann einen seltsamen Dialekt. Genuesisch? Neapolitanisch? Diese Kerle verstanden keinen Spaß, wenn es um Ehre und Familie ging. Vorsicht war geboten.

      Mit blutzornigem Gesicht ging er auf den Comte los, in der Hand eine kurze Klinge. „Che cosa hai fatto?!“ Was hast Du getan?!

      Der Comte war von der Ungeheuerlichkeit überrascht, er wich einen Schritt zurück, bis er sich seiner Stellung besann und wieder zum Angriff überging. Die Peitsche flirrte durch die winterliche Luft – drei, vier, ein ganzes Dutzend Mal. Der Schlittenführer sprang seinem Herrn bei und schlug gleichsam auf die Unglückseligen ein.

      Lorenzo atmete schwer, nicht vor Schmerz, sondern von der Last der Körper, die auf ihm lagen. Warmes Blut tropfte auf die Wangen und