Название | Innenansichten eines Niedergangs |
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Автор произведения | Urs Hofmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198832 |
Diskursanalyse ist eine historische Methode, die sozusagen zwischen der Linguistik auf der einen und der klassischen historischen Kontextanalyse auf der anderen Seite liegt.164 In Bezug auf das Verhältnis von Text und Kontext bedeutet die Diskursanalyse eine Umkehr des Blickwinkels und damit der Arbeitsreihenfolge: Während in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten in aller Regel «eine Beobachtung aus dem Kontext – ein Ereignis, eine Person, eine Institution, eine Entwicklung – zum Ausgangspunkt einer Fragestellung gemacht wird»,165 bilden bei der Diskursanalyse die Texte den Ausgangspunkt der Untersuchung. Um dieser Vorzugsstellung des Textes vor dem Kontext gerecht zu werden, muss ihr auch methodisch Ausdruck verliehen werden. Der hier vertretene Ansatz folgt dem Vorschlag von Landwehr, der nach der Korpusbildung als zweiten Schritt die vertiefte Kontextanalyse vorschlägt.166 Die abschliessende Analyse der Diskurse lässt sich indes nicht erfolgreich vornehmen, ohne vorgängig den Kontext zu erörtern, denn auch zur Bestimmung eines Diskurses wird es immer notwendig sein, sich über Zeitpunkt, Ort und Form der Aussagen im Klaren zu sein.167 In diesem Sinne wird der Vorschlag von Philipp Sarasin verfolgt, der für seine diskursanalytische Untersuchung des hygienischen Körpers im 19. Jahrhundert fünf Ansatzpunkte definiert:168 «erstens die serielle Erfassung dieser Textproduktion, um die Struktur ihrer materiellen Produktions- und Distributionsformen zu erkennen; zweitens die Untersuchung der Protokolle der Lektüre; drittens die Rekonstruktion der grundlegenden diskursiven Regelmässigkeiten; viertens eine Skizze des populärwissenschaftlichen Interdiskurses und fünftens die Konfrontation des Hygienediskurses mit konkurrierenden Formen des Aussagens über den Körper.»169
Die Bedeutung von «Diskurs», die im Folgenden verwendet wird, versteht sich als Gesamtheit der Begriffe, Redewendungen und Sprechakte zur protestantischen Sicht der Kirche in der sich verändernden, modernen Gesellschaft. Die gesammelten Aussagen sind Teil dieses Diskurses und beziehen sich jeweils aufeinander. Der imaginäre Korpus zum protestantischen Diskurs über den gesellschaftlichen Wandel enthält sämtliche Äusserungen zu diesem weit gefassten Themenbereich – seien es Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel, Flugblätter, Radio- oder Fernsehsendungen. Aus dem davon noch erhaltenen und recherchierbaren Teil, dem virtuellen Korpus, bilden die Artikel aus protestantischen Zeitschriften die Grundlage der in dieser Arbeit vorgenommenen Diskursanalyse. Es handelt sich dabei um knapp 700 Artikel, die in den sechs verschiedenen kirchlichen und kirchennahen Zeitschriften im Zeitraum von knapp 60 Jahren erschienen sind. Der lange Untersuchungszeitraum von 1920 bis in die 1970er-Jahre erlaubt es, die diskursiven Konjunkturen zu verfolgen: Einzelne Themen erscheinen regelmässig auf dem Radarschirm der protestantischen Medien, nur um dann wieder für einige Jahre zu verschwinden. Anderes wiederum ist 40 Jahre lang kein Thema, wird dann aber in den 1950er- und 60er-Jahren umso intensiver diskutiert.
Die gesammelten Artikel können unterschieden werden in solche, die sich ausschliesslich theologischen Fragen widmen, und in alle anderen, die theologiefremde Themen zum Inhalt haben. Während uns Erstere an dieser Stelle weniger interessieren, machen die gesellschaftsnahen Themen rund einen Viertel aus und ergeben damit einen zur Untersuchung zur Verfügung stehenden Korpus von ungefähr 175 Texten. In diesen Zeitschriftenbeiträgen äusserten sich die Autoren (zur grossen Mehrheit Pfarrer) zu verschiedenen gesellschaftsrelevanten Themen. Die Zeitschriftenartikel in der protestantischen Basler Presse erfüllen weiter die Kriterien der «Einheitlichkeit des Mediums» und der Wiederholung und Gleichförmigkeit von immer wieder ähnlich Geschriebenem.170 Das verhältnismässig aufwändige Verfahren der Diskursanalyse verunmöglicht es jedoch, jede einzelne Diskussion und somit jeden einzelnen Text zu analysieren. Stellvertretend wurden deshalb einige repräsentative Debatten zur Analyse ausgewählt, und zwar mit folgendem Vorgehen: Diese Auswahl erfolgte nach einer qualitativen Sichtung aller Artikel – sie gab Auskunft über die Anzahl der relevanten Texte zu einem Thema, über die Regelmässigkeit und Häufigkeit ihres Erscheinens und somit über ihre Bedeutung im vorliegenden Kontext. Der sogenannte Oberdiskurs, hier als gesellschaftlicher Wandel in der Wahrnehmung der protestantischen Kirche bezeichnet, kann in verschiedene Unterdiskurse aufgeteilt werden: Armut/Arbeitslosigkeit/soziale Frage; Wirtschaft/Teuerung; Basels protestantische Kirche/Theologische Fakultät; Stellung der Frau (in der Kirche und der Gesamtgesellschaft); Neuer Lebensstil/Moderne (Neue Medien, Sexualmoral, Atomwaffen, Wahrnehmung der Prosperität etc.). Diese Unterdiskurse wiederum können in 15 verschiedene, thematisch eng begrenzte Bereiche unterteilt werden. Jeder der 175 ausgewählten Artikel wurde einem dieser Themenkreise zugeordnet.171 Sämtliche Themen berühren die Kirche in ihren Beziehungen gegen aussen und auch in ihrem Innern, über ihre Mitglieder, die gesellschaftliche Veränderungen in sie hineintragen. Zur Diskursanalyse ausgewählt wurden schliesslich die folgenden Themenbereiche: Die Nachfolge Karl Barths an der Theologischen Fakultät der Universität/die «Atom-Initiative»; Die Stellung der Frau in der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt; «Kirche und Sexualmoral»; Radio, Fernsehen und Kirche; Die Krisenzeit. Die Auswahlkriterien für diese Themenbereiche waren: 1.) Relative Häufigkeit des Themas, 2.) Anzahl der dazugehörigen Texte (die Relevanz eines Themas steigt mit der Anzahl der dazugehörigen Texte), 3.) Regelmässigkeit des Erscheinens (bevorzugt wurden Themen, die über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder in den Zeitschriften erscheinen), 4.) Relative thematische Relevanz.
3 – 2
STRUKTUR- UND AKTEURSGESCHICHTE
Die Vereinigung dieser zwei in der Theorie gegensätzlichen methodischen Herangehensweisen gleicht einem Oxymoron – für die vorliegende Arbeit macht sie durchaus Sinn. Wenn hier auf eine eingehende Diskussion dieser beiden Methoden verzichtet wird,172 muss stattdessen auf die Vorteile eingegangen werden, die eine Verbindung beider Herangehensweisen bietet. Während die Strukturgeschichte als Teil der «Historischen Sozialwissenschaft» eben die überindividuellen Strukturen in Wirtschaft oder Gesellschaft und soziale Lagen von Schichten und Gruppen in den Blick nimmt, fokussiert die Personen- oder Akteursgeschichte auf genau jene Individuen, die als Kollektiv eine Gruppe oder einen gesellschaftlichen Stand ausmachen. «Als Produkt der Modernisierung machte die Sozialgeschichte das Studium der Gesellschaft in der Modernisierung zu ihrem wohl zentralen Projekt», postuliert Josef Mooser.173 Insofern eignet sich die Sozialgeschichte in besonderem Masse, den Einbruch der Moderne in die Kirchen zu erfassen. Von diesem grösstmöglichen Bezugsrahmen einer Gesellschaftsgeschichte (im Sinne einer «histoire totale»), kann, quasi unter dem Vergrösserungsglas, der individuelle Akteur im kulturgeschichtlichen Sinn in den Blick genommen werden. So erfährt die Sozial- beziehungsweise Strukturgeschichte eine sinnvolle Ergänzung durch die Kulturgeschichte als ihre Hauptkritikerin, die unter anderem das Handeln des Einzelnen unter mikrogeschichtlichen Vorzeichen zum Forschungsgegenstand hat.174 Im vorliegenden, auf die Regionalgeschichte beschränkten Untersuchungsraum können so neben den kirchlichen und kirchennahen Vereinsstrukturen auch die massgebenden Akteurinnen und Akteure des baselstädtischen Protestantismus identifiziert werden. Namen, Aktivitäten und Ziele dieser Protagonisten können umrissen und die vorhandenen Verbindungen untereinander offen gelegt werden. Es ergeben sich Fragen nach den Formen und Gründen des Engagements, nach den Formen