Название | Innenansichten eines Niedergangs |
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Автор произведения | Urs Hofmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198832 |
Eine noch differenziertere Typisierung unternimmt Brigitte Gysin für die christlichen Vereine im «frommen Basel».116 Sie unterscheidet die Hauptzwecke nach religiös (a), sozial (b), Bildung (c) und wohltätig-religiös (d), teilt diese weiter nach untergeordneten Zwecken auf, die dann wiederum auf einer weiteren Ebene nach ihren Zielgruppen unterschieden werden.
Nach der These von Thomas Nipperdey haben die Kirchen bei der Entstehung des Verbandswesens keine Vorreiterrolle gespielt – sie hängten sich an die Verbandsentwicklung gewissermassen an, «in der sie ein zentrales Element der modernen Bürgerlichkeit zur Mobilisierung des Kirchenvolks gegen die Säkularisierung und zur Wiederverchristlichung der Gesellschaft sahen».117 Ob nun die Evangelischreformierte Kirche selbst das Vereinsprinzip übernahm und für ihre Zwecke instrumentalisierte, oder ob es die einzelnen Kirchenmitglieder als «Christen und zugleich Bürger» waren, wird vielleicht im Folgenden beantwortet werden können. Kaiser postuliert, die kirchlichen Vereinsgründungen bei den Protestanten basierten primär auf der Initiative von einzelnen Pfarrern, «die im Kirchenregiment entweder keine Rolle spielten» – er führt hier das Beispiel von Johann Hinrich Wichern an – «oder aufgrund des Pfarrerüberschusses gar nie in ein geistliches Amt gelangten».118 Auf jeden Fall stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Kirche und den christlichen Vereinen. Wenn die christlichen Vereinsgründungen keinen bewussten Akt der Kirche darstellten, sondern der Initiative von einzelnen Pfarrern oder Laien überlassen wurde, stellen sich Fragen zur Kontrolle und Konkurrenz der kirchennahen Vereine. Die neuen Gruppierungen konnten sich zu «nebenkirchlichen Institutionen mit eigenem Selbstbewusstsein»119 entwickeln. Die katholische Kirche löste diese Frage durch das Prinzip der Verkirchlichung der Vereine von Anfang an, während den evangelischen Landeskirchen dazu die Autorität fehlte. Wie die Verhältnisse diesbezüglich in Basel waren, wird die Untersuchung zeigen.
In diesem Sinne können die Vereinsakten über Ziele und Zwecke dieser kirchennahen Organisationen Auskunft geben. Sie zeigen weiter, mit welchen Mitteln diese Ziele erreicht werden wollten, ob die Vereinsmitglieder mit ihren Absichten erfolgreich waren oder nicht. Aus den Vereinsakten lässt sich weiter herauslesen, welche Rolle die Pfarrer in den Vereinen gespielt haben. Handelten sie im Auftrag ihrer Kirche, prägten sie die Vereinsausrichtung im Sinne ihrer Institution, oder waren sie frei in der Art und Weise der Mitgestaltung? Weiter kann Auskunft darüber gewonnen werden, wie die Vereinskonjunkturen über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg verliefen. Auch für die Forschungsarbeit mit einem mentalitätsgeschichtlichen Blickwinkel stellen die Vereinsakten eine ideale Quelle dar und versprechen gewinnbringende Aussagen.
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QUELLENLAGE
Zum Vereinswesen im Raum Basel im 19. Jahrhundert haben Brigitte Gysin und Sara Janner unverzichtbare Forschungsarbeit geleistet.120 Für die vorliegende Untersuchung, die im Übrigen nicht zum Ziel hat, das kirchliche Vereinsleben lückenlos zu erfassen und zu kategorisieren, kann auf diese Resultate zurückgegriffen werden. Unter der Rubrik «Religiöse Vereine und Anstalten» verzeichnet das Adressbuch der Stadt Basel sämtliche kirchlichen und kirchennahen Vereine.121 Das seit 1874 im Jahresrhythmus erscheinende Adressbuch erlaubt es, die Entwicklung der religiösen Vereine bis in die Gegenwart kontinuierlich zu verfolgen. Die alphabetisch geordneten Einträge sind in der Regel mit dem Gründungsdatum des Vereins versehen, den Namen und Adressen des Präsidenten, des Aktuars beziehungsweise des Sekretärs oder des Kassiers, sowie Ort, Zeit und Rhythmus der jeweiligen Treffen. Der Führer durch Basels Wohlfahrtseinrichtungen, herausgegeben von der Zentralkommission für Armenpflege und soziale Fürsorge in Basel sowie der in unregelmässigen Zeitabständen von der Verwaltung der Evangelisch-reformierten Kirche verfasste Kirchliche Wegweiser ergänzen das Adressbuch in verschiedener Hinsicht.122 Während ersterer die Einträge zu den Fürsorgeeinrichtungen mit einem kurzen Beschrieb zum Vereinszweck ergänzt, berücksichtigt letzterer die kirchlichen Strukturen (unter anderem die Kirchgemeinden).
Die Akten dieser Vereine – Jahresberichte, Protokolle, Kassabücher et cetera – sind allerdings nur zu Teilen im Staatsarchiv Basel-Stadt aufbewahrt und damit öffentlich zugänglich. Zur Mehrheit befinden oder befanden sich die Vereinsakten wohl in Privatbesitz, allenfalls im Archiv der Evangelisch-reformierten Kirche Basel oder sind verloren gegangen.
Für alle Teile der Untersuchung kann es sinnvoll sein, zusätzliche Quellengrundlagen herbeizuziehen. So insbesondere bei Fragestellungen, die die Kirchenleitung direkt betreffen, oder bei Themen mit politischer Relevanz. So kann auf die Jahresberichte der reformierten Kirchgemeinden zugegriffen werden, welche im schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel einsehbar sind. Die Jahresberichte der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Basel-Stadt legen im Umfang von jeweils 100 bis 120 Seiten Rechenschaft über das Kirchenjahr ab, sowohl in finanzieller und statistischer Hinsicht, wie auch über sämtliche Tätigkeiten ausserhalb der Gottesdienste; so sind darin zum Beispiel auch Angaben zur kirchlichen Arbeitslosenhilfe oder zu politischen Vorstössen enthalten. Die Jahresberichte der Kirche und die kirchlichen Zeitschriften sind vor allem auch deshalb aufschlussreich, weil sich in ihnen die über Jahrzehnte hinweg formulierten, sich verändernden mentalen Zustände über eine lange Dauer nachverfolgen lassen.
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DISKURSTHEORIE/-GESCHICHTE
Die Frage nach den materiellen Trägern der Quellentexte, den Zeitschriften, steht in engem Zusammenhang mit der Analysemethode, in diesem Fall der Diskursanalyse. Roger Chartier hat darauf hingewiesen, dass bereits die Form des Schriftträgers etwas aussagt über das Publikum, das erreicht, und die Wirkung, die erzielt werden wollte. Er hat vorgeschlagen, die Entstehung von Sinn durch die Praktiken der Buchproduktion und der Lektüre zu untersuchen.123 Die Medialität von Diskursen zu berücksichtigen, bedeutet, dass der Sinn und die «Wahrheit» von Texten vom Trägermedium abhängig sind und dass diese Tatsache in der Analyse mitzudenken ist. Autoren und Verleger stellen sich immer bestimmte Leserinnen und Leser vor. Die möglichen Rezeptionsweisen werden deshalb schon vor der Konfrontation des Lesers mit dem Text vorgespurt und beeinflusst, etwa durch die typografische Gestaltung, den Umfang, die Preisgestaltung oder die Vertriebsweise.124
Dass mit der Diskursanalyse im vorliegenden zweiten Teil der Arbeit die Sprache ins Zentrum der historischen Analyse rückt, hat mehrere Gründe: Erstens ist der Protestantismus mehr als alle anderen Glaubensrichtungen eine Konfession des Wortes. Der Textualität des Protestantismus kommt hohe Bedeutung zu. Zweitens kann Sprache auch «als analysierbares Medium von Mentalität» angesehen werden, als «konkrete Äusserung und Zeichensystem, das hinter den Meinungen und Verhaltensweisen liegt.»125