Название | Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990 |
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Автор произведения | Thomas Buomberger |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199235 |
In den Wochen nach dem Ungarn-Aufstand war die Verunsicherung innerhalb der Gewerkschaften gross. Soll man bei den Kommunisten differenzieren nach einfachen Mitgliedern und Funktionsträgern?120 In Genf, wo es laut Arthur Steiner «brodelte», drohte eine Spaltung. Der Leitende Ausschuss befürchtete, dass die führenden Kommunisten in Genf das Ziel hätten, «durch ihre Leute in unserem Sekretariat den Verband in die Finger zu bekommen. Sie wollen unterminieren und im Ernstfall würden diese unseren Verband zweifelsohne verraten». Dem fügte LA-Mitglied Grädel bei: «Wir müssen die Kommunisten moralisch verdammen.» Doch könne man nicht alle PdA-Mitglieder ausschliessen, sondern nur die aktiven. Dem hielt E. Giroud, der Vertreter aus der Westschweiz, entgegen, dass «unsere kommunistischen Mitglieder erklären, sie seien gegen den russischen Kommunismus, man dürfe nicht Vergleiche ziehen und sie würden darunter leiden, dass man sie mit diesen Gräueltaten in Verbindung bringe». Die einzigen, die sich in Genf gewerkschaftlich und in den Arbeiterkommissionen einsetzten, seien die Kommunisten. Viele seien gute Vertrauensleute. Ernst Wüthrich, der ab 1958 Zentralpräsident des SMUV war, gab sich als Hardliner. In seinen Voten manifestierte sich ein offenkundiger Graben zwischen der Deutsch- und der Westschweiz. Wenn man den Kommunisten «nicht den ganzen Apparat in die Hände spielen [wolle], ist das aber nur möglich, wenn die Sektionsverwaltung in Genf gesäubert wird. Denn dort, wo ein Loch ist, werden die Kommunisten hineinkommen».121
Drei Tage später erklärte Arthur Steiner, dass in den Deutschschweizer Sektionen die PdA-Mitglieder veranlasst würden, ihr Mandat niederzulegen. Er drohte: «Ich persönlich und auch meine Kollegen im Leitenden Ausschuss sind zur Überzeugung gelangt, dass auch unser Verband auf Sauberkeit achten muss und dort zuzugreifen hat, wo die Sektionen nicht selbst Ordnung machen.» Und ultimativ: «Wer heute noch zur PdA steht und gutheisst, was Russland tut, der hat keinen Platz mehr in der Gewerkschaft.» Wüthrich doppelte nach und meinte, es gelte nun, die Sekretariate von «kommunistischen Elementen zu säubern». Die Vertreter aus der Romandie gaben zu bedenken, dass es die Kommunisten waren, die die Sektionen hochgebracht hätten, währenddem die Nichtkommunisten der gewerkschaftlichen Arbeit indifferent gegenüberstünden.122
Am 11. Dezember 1956 erliess Arthur Steiner im Namen des Erweiterten Zentralvorstandes eine Erklärung zuhanden der Sektionsvorstände: «Es ist unvereinbar, eine Charge im SMUV zu haben und Mitglied der PdA zu sein. […] Der SMUV betreibt keine Parteipolitik. Er hält aber auf Sauberkeit, die er der schweizerischen Arbeiterschaft schuldig ist. […] Gegenüber der PdA hört aber die Diskussion aus Sauberkeitsgründen auf. Haltet auf Ordnung.»123 Bemerkenswert ist die mehr als einmal verwendete Metapher der «Sauberkeit», die ein Pendant hatte im «kommunistischen Bazillus», der den gesunden Schweizer Volkskörper bedrohte.
Während die «Säuberungen» in der Deutschschweiz nicht auf nennenswerten Widerstand stiessen, konnte sich der SMUV in Genf vorerst nicht durchsetzen. Der Leitende Ausschuss war ratlos, weil man die Kader in der Sektion und in den Arbeiterkommissionen nicht sofort ersetzen konnte. In der Deutschschweiz munkle man bereits, der Zentralvorstand wage es nicht, in Genf vorzugehen. Die PdA versuche, die Beschlüsse zu durchkreuzen, und wolle eine Petition gegen die Erklärung des Erweiterten Zentralvorstandes in den Betrieben lancieren.124
Die SMUV-Geschäftsleitung schien sich langsam durchzusetzen. Armand Magnin trat als Sekretär des Gewerkschaftskartells zurück und wurde wegen seiner «Verleumdungskampagne» ausgeschlossen. Doch die Beschlüsse des Zentralvorstandes liessen sich noch immer nicht umsetzen. Etliche Mitglieder wurden zwar ausgeschlossen, reichten aber Rekurs ein. Arthur Steiner vermutete: «Diese scheinen nicht von den Betroffenen selbst geschrieben worden zu sein, sehr wahrscheinlich steckt [der kommunistische Anwalt und Nationalrat Jean] Vincent dahinter.» Tatsächlich untersuchte ein Genfer Advokat im Auftrag des SMUV die Statuten und musste feststellen, dass darin «unklare Formulierungen» enthalten waren. Steiner befürchtete, dass es zu Prozessen kommen werde. Bis Mai 1957 sollen 100 bis 200 PdA-Mitglieder aus dem SMUV ausgetreten sein.125 SMUV-Zentralsekretär W. Peyer stellte 1958 befriedigt fest, man habe «mit eisernem Besen die letzten Reste kommunistischen Einflusses restlos ausgekehrt». Dass die PdA später die Verbandsleitung beschuldigt habe, demokratische Rechte verletzt zu haben, habe ihn wenig gekümmert.126 Mindestens verbal war der SGB auf der gleichen Linie wie der SMUV. Einem SMUV-Mitglied, das den Verband aufforderte, «etwas abzuwarten, bis der künstlich aufgewühlte Massenhass sich etwas gelegt» habe, antwortete der SGB: «Noch nie in der Geschichte der Arbeiterschaft hat man etwas derart Abscheuliches erlebt.» Gegen das Verhalten der PdA würden die Schweizer Arbeiter protestieren und verlangen, dass man gegen diejenigen vorgehe, «welche die Massakrierung von Arbeitern billigen, die sich gegen das unwürdige Joch der Unterdrückung auflehnen […]».127
Die «Säuberungen» im SMUV zogen sich bis in die 1960er-Jahre hinein. Allerdings gab es auch Ausnahmen. So wollte der Winterthurer SMUV-Sekretär Walter Gilomen die Kommunisten hinauswerfen, doch setzte sich Präsident Hans Egli durch, der meinte, solange einer nach den Ideen der Gewerkschaftsbewegung arbeite, habe er darin Platz, ob er Kommunist sei oder nicht. Im Sommer 1962 kam es auf Bestreben der Bundespolizei zu einem Treffen zwischen der Leitung des SMUV, um Informationen auszutauschen in Fällen, «in denen eine Wühlarbeit ausländischer kommunistischer Arbeiter in der Schweiz festgestellt worden ist». SMUV-Präsident Wüthrich zeigte sich dankbar für dieses Treffen.128
«Säuberungen» beschränkten sich nicht auf die Gewerkschaften. Der Zürcher Lehrerverein (LVZ) entschied 1956 mit 86 zu 0 Stimmen, dass kommunistische Lehrer aus dem Verband ausgeschlossen würden. Auch nahm er im Verhältnis von 3 zu 1 eine Resolution an, die die PdA als «Organisation landesverräterischen Charakters» bezeichnete. Die PdA-Lehrer wurden zum «systematisch geschulten Kader» der PdA gezählt und der Auslandsabhängigkeit bezichtigt. Weder während des Generalstreiks noch während der Frontenbewegung schloss der LVZ Lehrer wegen ihrer politischen Gesinnung aus. Der LVZ hielt fest, es gelte die freiheitliche Ordnung auf «vaterländischem Boden» zu schützen, die «faulen Stellen auszumerzen» und keinen «Schlupfwinkel für gefährliche Wühlereien» zu bieten.129
Skepsis gegenüber Ungarn-Flüchtlingen
Der Flüchtlingsstrom von Ungarn nach Österreich, die Überforderung der dortigen Behörden und die Solidarisierung mit der ungarischen Bevölkerung boten der offiziellen Schweiz die Gelegenheit, tatkräftig Humanität zu demonstrieren. Das passte auch ausgezeichnet ins Konzept von Bundesrat Max Petitpierre, der ab Anfang der 1950er-Jahre die Neutralität um die Maxime der Solidarität erweitert hatte. Damit wollte er den aussenpolitischen Handlungsspielraum ausweiten, einen bescheidenen Beitrag an die internationalen Bemühungen gegen die Ausbreitung des Kommunismus leisten und aus der Isolation ausbrechen, was Mitte der 1950er-Jahre weitgehend gelungen war.130
Die Schweizer Regierung verschloss sich deshalb nicht, als Hilferufe eintrafen. Während andere Länder noch über die Aufnahmekriterien diskutierten, trafen die ersten Flüchtlinge in der Schweiz ein. Bereits am 6. November 1956 stellte Bundesrat Markus Feldmann, der Vorsteher des EJPD, einen Antrag, 2000 ungarische Flüchtlinge aufzunehmen. «Das Schweizerische Rote Kreuz kann die gesammelten Gelder, die ihm in reichem Masse von allen Seiten zufliessen, nicht mehr für konstruktive Hilfe in Ungarn selbst einsetzen», weshalb es 2000 Flüchtlinge in die Schweiz bringen möchte, hiess es im Antrag.131 Kurze Zeit später reisten weitere 2000 Flüchtlinge ein, obwohl es an den nötigen Strukturen fehlte. Die Hilfsbereitschaft aber war gross, wie nach einer Besprechung zwischen Feldmann und Vertretern der Hilfswerke registriert wurde. «Aus dem ganzen Lande sind inzwischen zahlreiche Hilfsangebote eingegangen. Zum Teil haben sich Kantone bereit erklärt, eine grössere Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, d. h. ihnen eine Aufenthaltsund Arbeitsbewilligung zu verteilen. […] Aber auch Verbände, Firmen und Private haben sich zur Übernahme von Flüchtlingsfamilien verpflichtet.»132 Dabei sei davon auszugehen, dass die Flüchtlinge sehr lange in der Schweiz bleiben würden.
Entgegen dem Rat der Hilfswerke beschloss der Bundesrat Ende November, weitere 6000 Flüchtlinge