Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990. Thomas Buomberger

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Название Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990
Автор произведения Thomas Buomberger
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199235



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anderem auch Lohnerhöhungen, genügen den Aufständischen nicht. Sie verlangen den sofortigen vollständigen Rückzug und ein pluralistisches politisches System. Am 30. Oktober verabschiedet sich Nagy vom Einparteienstaat und anerkennt die Revolutionsräte. Tausende von politischen Gefangenen werden befreit. Am 31. Oktober verkündet Nagy den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Wiederzulassung der Parteien von 1945 sowie freie Wahlen. Die Sowjets scheinen die Massnahmen der ungarischen Regierung zu akzeptieren und stellen Verhandlungen über einen Rückzug in Aussicht.69 Doch das ist eine Finte. Die sowjetische Führung, die zwölf Divisionen mit 60 000 Mann in Ungarn stationiert hat, sieht den Sozialismus in Ungarn in Gefahr und macht eine Kehrtwendung, um «die Ordnung wiederherzustellen». Am 4. November rollen Panzertruppen auf Budapest zu, das vorher von den Russen verlassen worden war. Innerhalb von 24 Stunden ist der Widerstand der Aufständischen in Budapest gebrochen. In einigen Teilen des Landes dauert der Widerstand noch einige Tage an. Schätzungsweise 2700 Ungarn werden getötet, 20 000 verletzt. 720 russische Soldaten kommen ums Leben, 1540 werden verwundet. 150 000 Ungarn flüchten aus dem Land. Grosse Teile von Budapest werden schwer beschädigt, teilweise ganz zerstört. Janos Kadar, der die Regierung am 1.November verlassen hatte, wird neuer Regierungschef. Nagy, der zuvor in die jugoslawische Botschaft geflüchtet war, wird durch die ungarische Regierung freies Geleit zugesichert. Als er sein Asyl verlässt, wird er verhaftet; 1958 zusammen mit weiteren Revolutionsführern hingerichtet.70

      Der Aufstand löst als erste Reaktion in der Schweiz eine Welle der Solidarität und Sympathie aus, weil er als Freiheitskampf einer unterdrückten Bevölkerung gegen ein verhasstes Regime gesehen wird. Am 29. Oktober drücken 8000 Demonstrierende ihre Unterstützung aus. Am 7. November protestieren in den wichtigsten Städten weitere Tausende. In Genf gibt es an diesem Tag eine gewalttätige Auseinandersetzung vor dem Hotel Beau-Rivage, wo die Russen ihren Nationalfeiertag begehen. Am 20. November steht die Schweiz während dreier Schweigeminuten still. Der LdU von Gottlieb Duttweiler sowie verschiedene kantonale Parlamente verlangen den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion. Der Bundesrat ist dagegen, weil das gegen das Prinzip der Universalität verstossen würde. Bundesrat Petitpierre geisselt aber das Vorgehen der Sowjets vor dem Parlament in starken Worten: «Il n’y a pas un Suisse digne de ce nom qui n’ait ressenti avec émotion que quelque chose était en train de s’accomplir qui était une offense à l’humanité et qui détruirait pour longtemps toute confiance dans un avenir meilleur pour les hommes et les peuples.»71 Das Schweizerische Olympische Komitee entscheidet am 7. November, die Olympischen Spiele in Melbourne zu boykottieren. Verschiedene wissenschaftliche Gesellschaften ziehen Einladungen an sowjetische Kollegen zurück oder verzichten auf die Teilnahme an Kongressen. Die Sowjetunion wird vom Comptoir Suisse ausgeladen.

      Am Anfang nahm die Presse in der Sowjetunion kaum Notiz von den Reaktionen in der Schweiz. Doch mit einigen Wochen Verzögerung reagierte sie ungehalten und übte bei verschiedenen Gelegenheiten Kritik. Dem Schweizer Gesandten in Moskau wurde vom Aussenminister bedeutet, dass die Reaktionen «künstlich» seien und dass er nicht verstehen könne, wieso die öffentliche Meinung in der Schweiz heftiger reagiere als in Frankreich, England oder Westdeutschland. Man müsse aufpassen, dass sich die Beziehungen nicht noch mehr verschlechterten, weil das die internationale Position der Schweiz schwächen würde.72 Man hatte also auch in der Sowjetunion registriert, dass die antikommunistischen Reaktionen in der Schweiz heftiger ausgefallen waren als anderswo.

      Auf Protest und Empörung folgte die Hilfe. Die Ungarn-Hilfe erfasste die ganze Bevölkerung, Gross und Klein. Die Lehrerzeitungen und die Lehrerschaft riefen zu Hilfsaktionen auf. Die Spendenfreudigkeit ist enorm: Das Rote Kreuz erhält 17 Millionen Franken – mehr als jede andere Hilfsorganisation in Europa.73 Insgesamt wurden zwei Millionen Pakete mit Medikamenten und Nahrungsmitteln nach Ungarn verschickt.74 Eine Weihnachtsaktion, an der sich 10 000 Schulklassen beteiligten, brachte 53 000 Kilogramm Schokolade zusammen, die an 360 000 Kinder in Ungarn verteilt wurden. Ein damaliger Schüler erzählte im Jahr 2010, wie prägend der Ungarn-Aufstand gewesen sei: «Da wurde man natürlich antirussisch geprägt. Das ging durchs ganze Volk. Die Knaben waren noch ganz separat im Werken. Aber dann haben wir auch gestrickt, Decken gestrickt und während den Mathematiklektionen den Mädchen rüber gegeben, wenn sie Fehler korrigieren mussten […].» Ein anderer meinte, die Decken seien gar nie gebraucht worden, die Armee habe genügend Wolldecken liefern können. Die Aktion habe vielmehr dazu gedient, die Kalte-Kriegs-Stimmung zu schüren.75

      Studentische Kreise sammelten Lebensmittel und Kleider und organisierten Materialtransporte. Ein Teil der späteren politischen Elite wie Elisabeth Kopp, Walter Renschler oder Peter Arbenz waren in der Ungarn-Hilfe tätig und wurden nachhaltig politisch sozialisiert. In der Ungarn-Hilfe betätigte sich auch der jüdische Medizinstudent Berthold Rothschild, aus einem freisinnigen Milieu stammend und in der rechts stehenden liberalen Studentenschaft engagiert. Er war im Dezember 1956 in Wien, wo ihm Zweifel kamen. Er hörte von antisemitischen Exzessen, faschistischen Parolen und Opportunisten, die in den Westen geflüchtet waren.

      In einer Welt- und Schweizergeschichte aus dem Jahr 1959 wird der Ungarn-Aufstand so geschildert: «Seite an Seite mit den ungarischen Truppen kämpfen Studenten, Studentinnen und Kinder von acht und neun Jahren […]. Bald füllen sich Spitäler, Keller und Korridore mit Matratzen und Verwundeten. In den Strassen werfen die Russen die Leichen der Gefallenen wie ‹Brennholz› auf ihre Lastwagen. Die Ungarn suchen ihnen zuvorzukommen und beerdigen ihre Toten in Parkanlagen.» Zwei Jahre später erfuhren Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht: «[…] die russischen Kanonen und Tankgeschütze jagten ihre Geschosse durch die Strassen der ungarischen Städte, legten ganze Strassenzüge in Schutt und Asche und zerschmetterten rücksichtslos Freiheitskämpfer, Frauen, Kinder, Greise. Die Ungarn ergaben sich jedoch nicht.» Diese Schilderungen, die auch falsche Opferzahlen nannten, evozierten Emotionen. Sie vermittelten das Bild eines menschenverachtenden, diabolischen Kommunismus, der auch nicht davor zurückschreckte, Greise, Frauen und Kinder zu schlachten.76

      Der Einmarsch der Sowjets und die Niederschlagung des Aufstands empörte die Bevölkerung zutiefst. Angeheizt wurde diese Empörung durch Bilder in der Filmwochenschau von sowjetischen Panzern, die gegen unbewaffnete Bürger vorgingen: ein Kampf, David gegen Goliath. Für die katholische Zeitung Vaterland war es ein apokalyptischer Kampf zwischen Gott und dem Teufel. Was in Ungarn geschehe, schrieb sie, könne «nur eine Ausgeburt der Hölle sein».77 Für noch grössere Empörung sorgte aber, dass sich die PdA anfänglich mit den Sowjets solidarisierte. PdA-Mitglieder wurden zur Zielscheibe von Hasstiraden in nie gekanntem Ausmass, die Kommunisten wurden zur Projektionsfläche für das Böse schlechthin. Noch am Tag des Einmarsches gab der Zürcher Regierungsrat den Tarif durch: «Die Partei der Arbeit ist eine kommunistische Partei. Sie verneint den in langer Entwicklung gewachsenen demokratischen Staat in seinen Grundzügen. Von Bedeutung sind auch ihre Beziehungen zum Ausland und ihre geistige Abhängigkeit von ausländischen Organisationen. Der Regierungsrat wird daher dieser Partei und ihren Anhängern im öffentlichen Dienst im Rahmen seiner Zuständigkeit die erforderliche Beachtung schenken.»78

      Die Welle der Empörung nahm in den Tagen nach dem Einmarsch zu. Im Lichthof der Universität Zürich fand am 8. November 1956 eine Kundgebung statt, an der Studierende und Dozierende eine Resolution verabschiedeten. Darin hiess es: «Wir fordern alle, die es angeht, auf, alle wirtschaftlichen, sportlichen und ideologischen Beziehungen mit Sowjetrussland vollständig abzubrechen.»79 Parteilokale, Druckereien und Wohnungen von Funktionären der PdA wurden in den Wochen nach dem Einmarsch von Hunderten aufgebrachter Bürger belagert. Es kam – nur in der Deutschschweiz – zu Sachbeschädigungen und Tätlichkeiten.80 PdA-Funktionäre ersuchten um Polizeischutz. Versammlungslokale für die PdA wurden gesperrt, PdA-Nationalräten in Bern die Unterkunft verweigert. Vielen PdA-Mitgliedern wurde die Stelle gekündigt, sie mussten oft von einem Tag auf den anderen gehen. Die Parteitätigkeit der PdA kam während Wochen völlig zum Erliegen; etliche Sektionen lösten sich auf. Es herrschte gegenüber der PdA eine Stimmung der Verfolgung. Eine Standesinitiative des Urner Landrates verlangte ein Verbot der PdA. SP-Grossrat Friedrich Schneider forderte ein Beamtenverbot von PdA-Mitgliedern und affiliierten Organisationen. Auch die Jungfreisinnigen des Kantons Zürich wollten die Kommunisten aus allen öffentlichen Diensten entfernt wissen. Arbeiterorganisationen