Название | Lebendige Seelsorge 6/2019 |
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Автор произведения | Verlag Echter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429064266 |
Vor nicht allzu langer Zeit noch sind solche Erzählungen und vor allem die Erzählerinnen schlichtweg empört und mittels Täter-Opfer-Umkehr-Narrativen zum Schweigen gebracht worden. Die performative Dimension solcher Narrative setzt also bestimmte soziokulturelle, politische, ethische Bedingungen voraus, die noch genauer zu klären wären: Unter welchen Bedingungen kann deren kritisch-kreatives Potential freigesetzt werden? Mir scheint, dass „Große Erzählungen“ im Hintergrund dabei eine wichtige Rolle spielen.
2) Der Begriff der „Großen Erzählungen“ ist deshalb für seine theologische (Nicht-) Verwendbarkeit noch dringend differenzierungsbedürftig (auch auf meiner Seite). Lyotards Verständnis, wie es Kern beschreibt, scheint mir zu unspezifisch, um ihn gänzlich aus der Theologie zu verdammen. Denn zur (negativen) „Stabilisierung von Orten und Funktionen innerhalb eines diskursiven Zusammenhangs“ (S. 390) können eben auch „kleine“, sogar inkarnative Erzählungen beitragen. Umgekehrt können auch „Große Erzählungen“ bestimmter Qualität kritisch sein: Man denke nur an das Exodus-Motiv, das als „Große Erzählung“ von einem Gott, der durch die Geschichte hindurch aus religiösen und politischen Unterdrückungsverhältnissen rettet, marginalisierte Gruppen bis heute zu Widerstand und Hoffnung ermutigt. Wäre der Exodus nur für diese eine konkrete Situation als Erzählung relevant (und vielleicht sogar nicht einmal in unserem modernen historischen Sinne „wahr“), nehmen wir westliche Theolog*innen, die wir ein schlechtes Gewissen ob seines politischen Missbrauchs haben, den Marginalisierten mit unserem generellen Vorbehalt gegenüber „Großen Erzählungen“ nicht eine wichtige Quelle der Hoffnung? Denn erst eine geschichtstheologische Abstraktion gibt diesem Motiv Kraft. Freilich wären auch für solche Abstraktionen Qualitätskriterien zu entwickeln. „Große Erzählungen“ sind in diesem Sinne geschichtliche Glaubenserfahrungen, die zwar konkreten Ereignissen abgerungen werden, aber doch einen universalen Anspruch in sich bergen. Der entscheidende Unterschied zwischen „guten“ und „schlechten“ „Großen Erzählungen“ kann also nicht im Abstraktionsgrad, im Kritik- oder Kreativitätspotential liegen noch auch in der (de)stabilisierenden Wirkung als solcher, weil es eben davon abhängt, wer oder was in welcher Situation und zu welchem Zweck (de)stabilisiert werden soll.
3) Damit bin ich bei einem Zweifel, der mich angesichts des massiven Vorbehaltes gegen das Stabilisieren und das Pathos der irritierenden Alterität beschleicht – wissend um das Pathos, das sich auch mit (m)einem Verständnis der „Großen Erzählung“ verbinden kann und meiner Liebe zu ebendiesem theologischen Habitus. Begegnet mir dieser Stil, den ich sonst selbst gerne pflege, als Gegenüber, sticht mir plötzlich dessen Einseitigkeit ins Auge. Mit einem Mal bin ich es, die in einem Text Trost, Hoffnung und Stabilisierung als zentrale Dimensionen biblischer Verkündigung vermisst und sich fragen muss, ob die Sehnsucht danach ein Zeichen von mangelnder Intellektualität ist.
Vermutlich sind auch in dieser Hinsicht Differenzierungen erforderlich, die ich hier nicht leisten kann: An wen richtet sich der Text Kerns? Wer kann/darf unter welchen hermeneutischen Bedingungen biblische Texte tröstlich, selbstbestätigend und ermutigend deuten? Wer muss sie selbstkritisch lesen? Für die Verfasser biblischer Texte, die als Vertriebene in Exil und Diaspora lebten, war die Erinnerung an einen Gott, der die Mächtigen und Reichen vom Thron stürzt, tröstlich – für wohlhabende Professor*innen in Westeuropa wie mich wohl eher nicht. An wen richtet sich Christian Kerns Text? Mit wessen Ohren hört er die Tradition?
4) Tatsächlich problematisch aber wird die einseitige Betonung der destabilisierenden Fragmentarität inkarnativer Erzählungen in der Darstellung Jesus von Nazareth als des „ganz Anderen“. Ja, das war und ist er auch. Und die Evangelien reichen tatsächlich nicht für eine „Große Erzählung“. Aber sie sind weder das Ganze des Neuen Testaments, das auch gemeindestabilisierende Texte kennt, noch ist „das“ Evangelium Jesu (was meint Kern damit?) ohne die Einbettung in die „Großen Erzählungen“ (v. a. des Alten Testaments), die sich wie rote Fäden in den heterogenen Texten der Bibel erkennen lassen, auch nur annährend zu verstehen. Die Entbettung, die Kern hier vollzieht, könnte nämlich den Anschein Jesu als einer radikal neuen Singularität erwecken, die mit dem Jude-Sein Jesu und dessen Aufgreifen, In-Erinnerung-Rufen und Reinterpretieren alttestamentlicher Narrative nichts zu tun hat.
Das radikale Insistieren auf der Alterität des Evangeliums Jesu bekommt so ungewollt eine Schlagseite, die den aktuellen Stand der Exegese unterbietet. Denn der „kleine Tweet“ des Evangeliums bekommt seine Kraft in der Spannung zwischen konkreter situativer Einbettung und der „Großen Erzählungen“ biblischer Glaubenserfahrungen, die ihn speisen.
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