Lebendige Seelsorge 6/2019. Verlag Echter

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Название Lebendige Seelsorge 6/2019
Автор произведения Verlag Echter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429064266



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handelt sich dabei nicht um eine große, epochale Erzählung, sondern um eine kleine, kritische Intervention, die doch zu großen Infragestellungen und Aufbrüchen führt.

      Erzählungen sind „inkarnativ“, weil sie eine Alterität einspielen, die selbst nicht ausgelotet werden kann, aber in dieser Eröffnung eine Veränderung fordern und diese andere Lebbarkeit performativ realisieren.

      In diesem Sinne sind die Evangelien verstörende, irritierende, empörende Beanspruchungen eines anderen Glaubens und anderer Lebensverhältnisse innerhalb von herrschenden Strukturen. Sie verlagern ihre anderen Perspektiven nicht irgendwohin (Utopien), sondern realisieren sie, indem sie erzählerisch-kritisch in die religionspolitischen Kontexte der jeweiligen Gegenwart intervenieren und erzählend-kreativ andere Verkörperungsbedingungen praktizieren und einfordern.

      Auch die Ostererzählungen haben diese inkarnative Qualität. Ostern ist keine story von makellosem Erfolg oder glänzender Souveränität, sondern verstört. Eben davon wird auf inhaltlicher Ebene erzählt. Die Frauen am Grab treffen unvorhergesehen auf die Leerstelle: Jesus ist weg. Was sie dort zu sehen und zu hören bekommen, verstört sie zutiefst und schlägt sie in die Flucht. „Denn sie fürchteten sich“. Ebenso irritiert sind auch die Jünger, als ihnen davon erzählt wird: helle Aufregung; und die empörte Unterstellung, die Frauen seien von Sinnen. Später am leeren Grab werden auch sie irritiert davongehen. Dort läuft ein Schauder über den Rücken.

      Nicht nur auf inhaltlicher Ebene wird von Verstörendem, Irritierendem, Empörung erzählt. Analog zu den Geburtserzählungen wirken die Osternarrative in ihrem religionspolitischen Kontext ebenfalls so. Wie kann es denn sein, dass Gott gerade mit einem Menschen identifiziert ist, der als von Gott verworfen/verflucht galt und aus der Sphäre des ehrbaren Lebens ausgesondert war? Wer vom auferstandenen Gekreuzigten erzählt(e), stellt nicht nur herrschende Souveränitätstheologien infrage, sondern beansprucht darin Lebens- und Verkörperungsweisen, die sich dem Zugriff herrschender Mächte entziehen und zugleich deren Exklusionsmechanismen kritisch spiegeln.

      Auch heutige Kontextstrukturen können in diesem Sinne aufgebrochen werden. In der Figur des Auferstandenen begegnet uns kein froher, über alles Leiden erhabener, makellos schöner Strahlemann. Erst recht nicht begegnet uns dort einer, der sich als Gründungsfigur einer imperialen Weltkirche heranziehen ließe. Ganz im Gegenteil. Wir bekommen es dort mit einem geschlagenen, geschundenen, geschändeten Menschen zu tun. Er hat die große Dissoziation hinter sich und war in einen Bereich des Todes geraten, wo kein Leben mehr geblieben war, außer einem erstickten Schrei. Es ist unfassbar, dass dieser geschändete und getötete Mensch nun wieder unter den Lebenden sein soll! Und dass Gott gerade mit ihm/ihr identifiziert ist! Jenseits von verklärendem Osterfrohlocken schauen wir hier einer verstörenden Gestalt ins Gesicht, von der sich mancher vielleicht abwenden will.

      Diese Erscheinungsgestalt rückt die Ostererzählungen in die Nähe von Geistererzählungen (vgl. Hoff) statt in die Nähe von Heldenepen. Vor allem aber verbindet sie Ostern mit Missbrauchserzählungen. Ostern kann einem, so wie diese, einen Schauder über den Rücken jagen. Aber gerade dieser Schauder des Erzählens führt auch zu jener kritischen und kreativen Kraft, die inkarnativen Erzählungen eigen ist: Im auferweckten Gekreuzigten spiegeln sich diejenigen Mächte und Gewalten, die bestimmte Leben und Erfahrungen unsichtbar, unsagbar, unerkennbar machten. Ihre „Nekropolitik“ (Achille Mbembe) wird aufgedeckt. Darin wird zugleich eine Veränderung der Herrschaftsbedingungen gefordert und in der Erzählung der Erscheinungen des de-realisierten Lebens performativ, hier und jetzt, in Anspruch genommen.

      KRITISCH GEGENÜBER GROSSEN ERZÄHLUNGEN

      Es entfaltet darin eine politische Kritik, die den Widerspruch zu herrschenden Ordnungen der Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Verkörperung von menschlichen Leben und Erfahrungen mit einschließt. Es plädiert und realisiert dabei ebenso kreativ, im Sprechakt der Erzählung selbst, eine andere Weise des Lebens und entsprechender Verkörperungsbedingungen und fordert ein, dass diese in Zukunft gesellschaftlich lebbar gemacht werden. Diese Perspektive ist notwendigerweise partikular, weil sie an den jeweiligen partikularen Rahmen gebunden ist, in dem sie auftaucht, und weil jeder Totalisierungs- bzw. Universalisierungsversuch von der Unfassbarkeit der Leerstelle Gottes unterlaufen wird.

      Das Evangelium Jesu ist eine partikulare Aktivität, die Große Erzählungen entzaubert.

      Kurz gesagt: Das Evangelium ist keine Große Erzählung. Es ist ein kleiner Tweet, der Unsagbarkeiten und Unfassbarkeiten einspielt. Seine Kraft entfaltet sich im Raum, der Bedingungen von Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Verkörperung verändert, so dass verworfenes Leben zutage treten, Gestalt gewinnen, ins Leben kommen kann.

      LITERATUR

      Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 2017.

      Hoff, Gregor, Religionsgespenster. Versuch über den Religiösen Schock, Paderborn 2017.

      Pathos anstelle differenzierter Begriffsklärung? Eine (auch Selbst-) Kritik

      Für eine Kirche und eine Theologie, die – wie im deutschsprachigen Raum vermutet werden darf – aufgrund einer langen Geschichte gesellschaftlicher und religiöser Hegemonie vergessen hat, dass „die Evangelien verstörende, irritierende, empörende Beanspruchungen eines anderen Glaubens und anderer Lebensverhältnisse innerhalb herrschender Strukturen“ (S. 391, letzte Hervorhebung RP) sind, ist die Erinnerung Christian Kerns an diese religionspolitische Dimension ihrer normativen Gründungstexte eine heilsame Erschütterung.

      Auch die mithilfe der Sprechakttheorie analysierte Charakteristik von Erzählungen wie der „#MeToo“-Bewegung oder der Missbrauchs-Aufklärung als performative Erzählungen, die die Hörer*innen so gar nicht verzaubern, sondern die „Schattenseiten“ (S. 389) gesellschaftlicher und kirchlicher Strukturen entlarven, ist nicht nur wissenschaftlich und sprachlich brillant, sondern wirkt befreiend, weil deren kritische und kreative Kraft freigesetzt wird, die zu veränderndem Handeln motiviert. Insofern eignet Christian Kerns Text selbst ein zutiefst „inkarnativer“ Charakter: Er spielt in die Diskurse der Pastoral eine Alterität ein, die auch diese zu Veränderungen stimuliert.

      Durch seinen Sprech- und Argumentationsstil demonstriert Kern zugleich, wie theologische Rede aussehen kann, die sich des Charakters ihrer biblischen Erzählungen besinnt. Sein Text gibt trotz – oder wegen – seiner irritierenden Qualität Hoffnung (das Evangelium als „kleinen Tweet“ (S. 393) zu beschreiben, ist ja nicht eben alltäglich). Nicht nur, weil er zeigt, dass und wie die scheinbare Schwäche des Evangeliums Leben freisetzen kann, sondern weil allein an der Existenz eines solchen Textes sichtbar wird, zu welch ungeheurem kritisch-kreativem Potential die aktuelle Kirchenkrise die Theologie befreien kann.

      Ich möchte jedoch auch einige Rückfragen, Anmerkungen