Название | Christentum im Kapitalismus |
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Автор произведения | Rainer Bucher |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429064389 |
Nun ist es ohne Zweifel eine der herausragenden Eigenschaften des Kapitalismus, tatsächlich auch seine Gegner für sich einzusetzen: eher wenig subtil, indem er sie kauft, subtiler, indem er deren Widerstandsenergie umleitet und zur eigenen Optimierung und Innovation nutzt. Aber: Schon rein theologisch betrachtet, ist der Kapitalismus immer noch ein irdisch’ Ding, auch wenn er sich zunehmend mit religiöser Aura umgibt und in religiösen Codes formatiert und wenn er auch tatsächlich immer tiefer eindringt ins Konstitutionssystem menschlicher Existenz. Er ist dennoch nicht Gott, mag er sich noch so sehr viele der ehemals von Religionen ausgefüllten Funktionen aneignen. Wenn er aber nicht Gott ist, dann mag er dominant und mächtig sein, allmächtig aber ist er nicht. Die Allmachtsbehauptung und jene Alternativlosigkeit ist schon eine seiner Macht- und Verführungsstrategien, so etwa, wenn er den Menschen als homo oeconomicus des permanent kalkulierenden Eigeninteresses definiert.
Spezifische Befreiungswirkungen des Kapitalismus sollen auch nicht übersehen werden. Was die Kirchen lange verurteilten und später beklagten, die Befreiung aus den vormodernen ständischen Schalen des Geschlechts, der Religion, der Geburt, das stellt sich unter der Perspektive von Menschenrechten und Menschenwürde als Fortschritt dar. Die Lage ist mithin ambivalent. Die Emanzipation der Frauen von männlicher Dominanz etwa, also die Auflösung der Zwangskopplung von Frauenbiographien an Männerbiographien, sie wäre ohne die vom kapitalistischen Modernisierungsprozess getriebene Integration der Frauen in den Arbeits- wie den Konsummarkt ein reichlich wirkungsloses idealistisches Postulat geblieben. Immerhin bildete das Konzept „Natürliche Gleichheit aller Menschen und natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ so etwas wie den „paradoxe(n) Kanon des 19. Jahrhunderts“, der „bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich bleibt“21. Diese Selbstwidersprüchlichkeit wurde weder vom Menschenrechtspathos der Aufklärung noch gar von der christlichen Nächstenliebe angetastet; es war die kapitalistische Marktintegration ehemals marktferner gesellschaftlicher Gruppen, neben den Frauen gilt dies etwa auch für die Landbevölkerung und ältere Menschen, die deren traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse lockerte. Diese Gruppen waren es freilich auch, die, gerade im katholischen Bereich, am längsten noch kirchliche Partizipation pflegten.22
6.
Wenn man sich als christlicher Theologe weder auf orthodoxkommunistische noch auf konservativ-reaktionäre alternative Gesellschaftsmodelle zurückziehen will, noch das Problem des Kapitalismus durch Exterritorialisierung verdrängt, so als ob man selber von ihm nicht betroffen wäre, aber auch nicht einfach ein Dokument der Kapitulation produzieren möchte, das durch Totalisierung und Dämonisierung des kulturell hegemonialen Kapitalismus vor ihm in die Knie geht, und zudem als praktischer Theologe auch nicht einfach nur die christliche Tradition in irgendeiner Weise verstehbar und plausibel halten will in kapitalistischer Zeit, wie es die Aufgabe der Systematischen Theologie ist und begnadeter Prediger und Predigerinnen: Was ist dann noch möglich?
Es bleibt, was sich eröffnet, wenn man die Frage nach dem Christentum im kulturell hegemonialen Kapitalismus stellt und dabei nicht meint, die Kritik des Kapitalismus wäre schon eine hinreichende Antwort. Es bleibt der schmale Grat zwischen Distanzierung und Affirmation, zwischen Entsolidarisierung und Sich-Einpassen ins kapitalistische Dispositiv, zwischen Kritikgewissheit und gleichzeitiger Übernahme kapitalistischer Prinzipien und Muster.
Sollen diese Gefahren vermieden werden, braucht es einige Analysen. Diese betreffen den kulturell hegemonialen Kapitalismus selbst, seine Strukturen und Wirkungsweisen. Sie betreffen die Formatierung der religiösen Landschaft im Kräftefeld des Kapitalismus und die Reaktionsmuster der wissenschaftlichen Theologie in diesem Kräftefeld. Dann aber kann Ausschau gehalten werden nach Konzepten, mit dem so beschriebenen Problemfeld von Christentum und Kapitalismus umzugehen. Solche Konzepte finden sich, nicht zuletzt in im engeren Sinne nicht-theologischen Diskursen postmoderner Neo-Marxisten. Doch auch das Archiv der christlichen Praktiken und Diskurse wird exemplarisch befragt werden und eröffnet praktischtheologische Überlegungen eines vielleicht weiterführenden Umgangs mit dem kulturell hegemonialen Kapitalismus.
Eine Voraussetzung ist dabei freilich nicht zu umgehen: Die bisherigen Konstellationen des Christentums sind an ein wirkliches Ende gekommen. Die radikale Dekonstruktion des Christentums im kulturell hegemonialen Kapitalismus muss ohne Wenn und Aber realisiert und akzeptiert werden und auch die Hilflosigkeit, die sich daraus ergibt. Weder bloße „optimierte“ Weiterverwaltung, das geläufige Konzept der Kirchen, noch die Resignation vor der Möglichkeit, dass die christliche Tradition auch in der Gegenwart noch eine Differenz setzt, die einen wirklichen Unterschied ausmacht, sind theologisch mögliche Strategien.
Dass die Ausführungen dieses Buches vorwiegend jene Region im Blick haben, in der und für die sie geschrieben sind, mit der aber auch alles begann, wurde bereits im Vorwort angemerkt und auch, dass sie von einem katholischen Theologen geschrieben wurden. Der vergleichende Blick wird freilich bisweilen über Europa und die katholische Kirche hinausgehen. Denn der globale Kapitalismus umstellt, umgibt und durchdringt alles. Aus seiner Perspektive, aus der Perspektive des nun herrschenden Souveräns, sind die internen Differenzierungen seines Vor-Vorgängers relativ nachrangig, wie übrigens auch dessen legitimatorischen Diskurse. Beides trifft nicht ganz zufällig übrigens auch für die meisten Christinnen und Christen23 zu: ein unübersehbarer Beleg, wer regiert.
II.
Die aktuelle Logik der Welt
1.
Wie werden wir regiert? Wie funktioniert die „Regierung der Lebenden“?1 Diese Frage stellte Michel Foucault in seiner Vorlesung am Collège de France im Frühjahr 1980. Es ging dabei nicht um Fragen von Regierungsformen und Regierungstechniken im Sinne institutionalisierter politischer Herrschaft, sondern grundlegender um die Frage, wie das Verhalten von Individuen und Kollektiven in der entwickelten Moderne gesteuert wird.
Bei der Beantwortung dieser Frage nimmt das antike Christentum bei Foucault einen entscheidenden, weil extrem folgenreichen und wirkmächtigen Platz ein. Denn das Christentum brachte, so Foucault, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte, sondern auch eine völlig neue Form religiöser Organisation auf der Basis einer ganz eigenen Form der Machtausübung und der Steuerung des Einzelnen. Das Christentum, so Foucault, sei die „einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat. Als solche vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw., sondern als Pastoren. Dieses Wort bezeichnet jedenfalls eine ganz eigentümliche Form von Macht.“2 Foucault nennt sie denn auch „Pastoralmacht“3.
Die christliche Pastoralmacht hat einige Eigenschaften, die sie von den bis dahin bekannten Machtformen unterscheidet. Sie ist selbstlos im Unterschied zur souveränen Königsmacht, die andere für sich sterben lässt. Sie ist individualisierend im Kontrast zur juridischen Macht, die an Fällen, nicht am Einzelnen interessiert ist, und sie ist totalisierend im Unterschied zur antiken Machtausübung, die sich nur für spezifischen, nicht für umfassenden Gehorsam bis in Intimstes interessiert. Die neue christliche Pastoralmacht bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das gesamte Leben.
Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirte, der jedes einzelne Schaf im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem seiner Schafe interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar. Das Wissen des Hirten über jedes seiner Schafe lässt seine Macht groß, invasiv und folgenreich werden, potentiell wirksam in jedem Augenblick. Der Hirte