Название | Eine Prise Magie (Bd. 1) |
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Автор произведения | Michelle Harrison |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783961775446 |
Fliss sah mit müdem Blick zu ihr auf. »Ich wollte dir die Hoffnung nicht nehmen, dass du diesen Ort eines Tages verlassen kannst.«
Betty spürte, wie die Wut in ihr hochkam. »Und was soll das, wenn es doch nie möglich sein wird? Wäre es da nicht menschlicher gewesen, die Wahrheit zu sagen?«
»Ja, ich meine … nein, ach, ich weiß nicht!« Fliss biss sich auf die Unterlippe. »Ich wollte das ja, aber ich musste Granny versprechen, nichts zu sagen.«
»Das hat dich doch sonst auch nicht davon abgehalten«, sagte Betty mit einem gekränkten Ton in der Stimme. »Wir haben uns immer alles erzählt.«
Fliss’ Wangen färbten sich rot. »Weißt du noch, als du klein warst?« Sie warf einen bedeutungsvollen Blick zu Charlie. »Die Sache, die ich dir erzählt hab?«
Betty nickte mürrisch. Als Fliss acht gewesen war und Betty erst fünf, hatte Fliss herausgefunden, dass die Zahnfee nicht echt war, sondern dass es Granny gewesen war, die einen Kupferraben unter das Kopfkissen gelegt hatte. Sie hatte sofort Betty davon erzählt. Granny war furchtbar wütend gewesen und hatte Fliss das lange nachgetragen.
»Ich hab mir das nie verziehen«, sagte Fliss leise. »Dass ich dir den Zauber verdorben hab. Dabei hättest du ihn noch eine Weile länger haben können.«
»Das ist aber nicht das Gleiche«, sagte Betty. »Das war ein alberner Kinderglaube. Ein Familienfluch ist etwas ganz anderes!«
»Das finde ich nicht. Letzten Endes geht es um das Gleiche, nämlich Unschuld.« Fliss lächelte verkrampft. »Und die wollte ich dir gerne noch eine kleine Weile erhalten. Dass diese Sache nicht das Erste ist, woran du am Morgen denkst, und das Letzte am Abend. Denn wenn es erst einmal raus ist, dann war’s das.« Ihre Augen glänzten auf einmal. »Für den Rest unseres Lebens.«
Den Rest unseres Lebens. Betty sah ihrer Schwester in die Augen, in denen sich ihre eigene Verzweiflung widerspiegelte. Sie hatte sich schon vorher eingeengt gefühlt, aber das war nichts gewesen gegen das, was sie jetzt empfand. Der Fluch hatte sich ihr wie eine unsichtbare Schlingpflanze um den Hals gelegt und jede Hoffnung aus ihr herausgepresst. Und selbst Magie konnte keine Entschädigung dafür sein.
Stunden später lag Betty hellwach in ihrem Bett, die leise schnarchende Charlie neben sich. Nach ewigem Hin- und Herwälzen und Daumenlutschen war sie endlich in einen ruhelosen Schlaf gefallen. Um sie zu beruhigen, hatte Betty ihr jede Geschichte erzählt, die ihr einfiel – doch keine war so merkwürdig und düster wie jene, die sie heute gehört hatten.
Von unten war das Plappern von Stimmen zu hören. Was führten sie doch für ein seltsames Leben, dachte Betty. Auch wenn die Gaststätte ihnen gehörte, kam es ihr doch nie so vor. Immer war das Raunen fremder Stimmen zu hören, immer das Knarzen fremder Schritte.
Selbst ihr Zimmer musste Betty teilen, ein Durcheinander von Charlies Kuscheltieren, Stoffpuppen, Muscheln und Kieselsteinen. Dazwischen Bettys Bücher, Marmeladengläser voller Knöpfe und anderer nützlicher Dinge und ihr Nähzeug. Am meisten hing sie an ihrem Briefmarkenalbum und ihrer Landkartensammlung. So manch ruhigen Nachmittag hatte sie damit verbracht und sich all die Orte notiert, die sie entdecken wollte.
Ihre Leidenschaft für Landkarten hatte damit begonnen, dass ihr Vater eines Morgens mit ihr auf den Markt am Hafen gegangen war. Betty war mit der Tochter eines Kartenmachers von einem der Schiffe herumgestromert. Sie hieß Roma, und sie hatte glatte braune Haut und geflochtenes Haar sowie tausend Erinnerungen an klare türkisfarbene Meere, ausgedörrte Wüsten und schneebedeckte Berge. Betty hatte wie gebannt zugehört und sich nichts sehnlicher gewünscht, als das alles auch einmal zu sehen. Später, als Roma geholfen hatte, die Karten zu verstauen, hatte Betty so lange gebettelt, bis ihr Vater nachgegeben und ihr eine gekauft hatte: ihre erste Landkarte. Sie hatte sie gehütet wie einen Schatz, als das Schiff des Kartenmachers wieder die Segel setzte und bald nur noch ein winziger Fleck am Horizont war. Sie sahen Roma nie wieder, aber das Fernweh und die Liebe zu Karten, die sie in Betty geweckt hatte, blieben bestehen.
Sie betrachtete die Kartenrollen. In ihnen verbarg sich eine ganze Welt, die sie so gerne entdeckt hätte. Jetzt hatte der Fluch sie ihr verdorben, wie eine verlockende, aber vergiftete Schachtel Pralinen. Sie konnte sie ansehen, doch ein einziger Bissen davon würde sie das Leben kosten. Ihr Blick glitt von den Karten zum flimmernden Mondlicht, das auf die rissige Zimmerdecke fiel, und eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Eine Welt, die sie nicht entdecken durfte, konnte sie sich nicht vorstellen, genauso wenig, wie sie sich vorstellen konnte, dass es nicht irgendwo da draußen eine Lösung gab, um das möglich zu machen.
Dann setzte sie sich ruckartig auf. Ihr war gerade etwas klar geworden. Granny hatte nicht gesagt, dass es nicht möglich war. Sie hatte gesagt, nichts, was die anderen Mädchen vor ihnen versucht hatten, war erfolgreich gewesen. Was bedeutete, dass Granny noch immer glaubte, dass es eine Möglichkeit gab, den Fluch aufzuheben, auch wenn sie selbst zu viel Angst hatte, es zu versuchen.
»Es tut mir leid, Granny«, flüsterte Betty in der Dunkelheit entschlossen vor sich hin, »aber wenn es eine Möglichkeit gibt, den Fluch zu brechen, dann muss ich es versuchen.«
Kapitel 6
Blutegel-Bastion
Betty lauschte noch eine halbe Stunde, bis sie die Stufen knarren hörte, als Granny und Fliss die Treppe heraufkamen. Es folgten das Geräusch fließenden Wassers, das Klicken der Schlafzimmertüren, die geschlossen wurden, und das Ächzen der Betten, als Granny und Fliss sich hinlegten. Dann Stille.
Betty wartete, bis Grannys grunzendes Schnarchen durch die Wand drang. Dann kroch sie aus dem Bett und fröstelte, als sie die kalte Luft an ihren nackten Füßen spürte. Schnell schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und schlich hinaus auf den Flur. Eine prickelnde Gänsehaut lief ihr über die Arme, als sie an der unheimlichen, feuchten Besenkammer auf dem Flur vorbeikam. Sie war voller Putzsachen und Gerümpel und der Teil des Hauses, den alle drei Mädchen nicht mochten. Ganz besonders Charlie hasste die Besenkammer, nachdem sie sich einmal beim Versteckenspielen darin eingeschlossen hatte. Betty schauderte und ging schnell weiter. Das Schnarchen klang jetzt ganz gleichmäßig und tief. Sie stieß Grannys Tür ein Stück auf und schlüpfte in das dunkle Zimmer.
Der Geruch von Grannys Pfeifenrauch lag in der Luft, vermischt mit dem unverkennbaren Dunst ihres Whiskyatems. Gut, Granny schien außer Gefecht zu sein. Betty erinnerte sich an Grannys Bitte und spürte einen Anflug schlechten Gewissens.
Bitte, Betty … versuch es nicht. Ich könnte das nicht noch mal ertragen … Das würde ich nicht überleben.
Der Gedanke, Granny zu verletzten, war schlimmer als der Gedanke, sie zu verärgern. Aber ich muss es tun, erinnerte sich Betty. Für Granny genauso wie für uns.
Sie ging zum Schrank, öffnete ihn und nahm die alte Keksdose heraus. Dann schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche. Sie wollte nicht, dass Charlie aufwachte und Fragen stellte. Falls Granny aufwachte, könnte sie die Dose schnell verstecken und sagen, dass sie sich nur etwas zu trinken holen wollte.
Sie setzte sich an den Tisch und hob vorsichtig den Deckel an. Sie tat an sich nichts Verbotenes, denn alle drei Mädchen hatten diese Dose schon viele Male gesehen. Granny hatte ihnen oft zum Spaß all die Kleinode und die Familienandenken darin gezeigt: die Karten und Zeichnungen der Mädchen, ein paar alte Fotografien und ein Paar Babyschuhe, die sie alle drei getragen hatten. Da war auch ein Bündel Papiere, die Granny immer gleich hatte verschwinden lassen, »damit nichts verloren« ginge, aber heute Abend war dieses Bündel genau das, was Betty suchte. Sie nahm es hervor und breitete die Papiere auf dem Tisch aus.
Als Erstes fand sie einen Stoß Briefe, die ihr Großvater Granny während des Krieges geschickt hatte, allesamt wellig und vergilbt. Die Briefe waren alles, was Granny von ihm geblieben